Hintergrund
Ernährungsexperte: «Manchmal müssen wir einfach mehr essen, um abzunehmen»
von Siri Schubert
Essen und Sport – diese Themen gehören zusammen wie Spaghetti und Tomatensauce. Klar geht das eine auch ohne das andere, aber richtig gut wird‘s erst, wenn man beides kombiniert. Damit mein Training für den Halbmarathon nicht wie Zuckerwatte verpufft, habe ich mich von einem Ernährungsprofi beraten lassen.
«Die Lust auf Süsses wird wohl in zwei bis drei Tagen nachlassen», sagt Gregory Grünig, Fitnesstrainer und Ernährungsdiagnostiker beim Erpse Institut. «Was?!? Wohl kaum», denke ich. Schliesslich begleitet mich die Lust auf Naschwerk, vor allem auf Gummibärchen, seit meiner Kindheit.
Spätestens nach dieser Ansage hat der Ernährungsberater meine volle Aufmerksamkeit. Als Teil meiner Vorbereitung auf den Hallwilersee Halbmarathon am 14. Oktober will ich meine Ernährung überprüfen lassen. Ich bin mir sicher, dass meine Essgewohnheiten nicht optimal sind, aber im Dschungel von Tipps, Verboten und Strategien von selbsternannten Experten finde ich mich einfach nicht mehr zurecht. Low Carb sagen die einen, High Carb die anderen. Intervallfasten raten die einen, alle zwei Stunden Nahrung aufnehmen, mahnen die anderen. Zunehmend beschleicht mich das Gefühl, bei der Ernährung ganz viel falsch, aber nur wenig richtig machen zu können.
«Dass es so viele Ernährungstipps auf TikTok und Instagram gibt von Leuten, die von der Materie nichts verstehen, macht unsere Arbeit nicht leichter«, sagt Gregory. Denn allgemeingültige Regeln gibt es nur wenige und eine optimale Ernährung ist, abgesehen von ein paar elementaren Grundregeln, immer auf die speziellen Lebensumstände des Einzelnen abgestimmt. Welche Fehler aber fast alle Sportler bei der Ernährung machen, erfährst du hier im Interview.
Um einen Einblick in meine Lebensumstände zu vermitteln, muss ich schon vor dem ersten Termin einen umfangreichen Fragebogen ausfüllen. Da geht es um Essgewohnheiten und Schlaf, aber auch um Eigenschaften wie Neugier oder Hilfsbereitschaft, um Humor, Zeit mit Freunden, tägliche Ärgernisse, Launen, TV-, Koffein- und Alkoholkonsum sowie Entscheidungsfreudigkeit. Bei vielen Punkten frage ich mich, was das mit Ernährung zu tun hat.
Später erfahre ich, dass meine Angaben helfen zu beurteilen, welche Bedürfnisse und Prägungen mich stressanfällig oder -resistent machen. Sport und Ernährung geschehen ja nicht im luftleeren Raum, sondern sind immer in die aktuelle und individuelle Lebenssituation eingebunden. Was mir Energie und manchmal auch die Nerven raubt und was mich beflügelt, ist deshalb von Bedeutung.
Im Erpse Testcenter angekommen warten weitere Analysen auf mich: Los geht’s mit der Fettfaltenmessung, für die ich schon ein gesundes Selbstbewusstsein brauche. Gregory zwickte mich mit Zangen aus Metall, sogenannten Kalipern, an Bauch, Armen und Beinen, um meinen Körperfettanteil und die Verteilung zu ermitteln. Ob sich das Körperfett am Rumpf oder an den Extremitäten sammelt, lässt Rückschlüsse auf die Gesundheit und den Stoffwechsel zu.
Als nächstes klebt mir der Ernährungsexperte Elektroden an Hände und Füsse. Mit Hilfe der Bioelektrischen Impedanz Analyse (BIA) misst er meine Körperzusammensetzung. Genauer gesagt, den Anteil an Muskeln, Fett, Knochen und Wasser. Allein das Gewicht oder der Body-Mass-Index (BMI) sind gerade bei Sportlerinnen und Sportlern oft irreführend, da Muskeln mehr wiegen als Fett und deshalb der BMI teilweise als zu hoch angesehen wird, auch wenn er tatsächlich ideal ist. Die Analyse lässt zudem wichtige Rückschlüsse auf meinen Erholungszustand und die Regenerationsfähigkeit meiner Zellen zu.
Bei mir ist fast alles im grünen Bereich, Muskel- und Fettanteil stehen in einem guten Verhältnis zueinander. Völlig aufatmen kann ich dennoch nicht, denn der Wassergehalt in meinem Körper ist erhöht. Das war schon bei früheren BIA-Messungen im Aurum Fitnessstudio aufgefallen und weist darauf hin, dass meine Erholung nicht optimal verläuft. Durch Entzündungsprozesse und fehlende Regeneration lagert sich Wasser ausserhalb der Zellen ein. Das erhöht mein Gewicht und gibt mir das Gefühl von schweren Beinen. «Wenn wir die Erholung verbessern können und du weniger Wasser einlagerst, dürften wir schon einen Gewichtsverlust von rund zwei Kilos erreichen», sagt Gregory. Das klingt doch schon mal gut.
Als nächster Test steht die Spiroergometrie auf dem Programm. Mit dieser Methode wird die Belastbarkeit der Lunge und des Herz-Kreislauf-Systems geprüft. Dazu soll ich auf einem stationären Velo strampeln, um zu ermitteln, wie viel Sauerstoff ich unter Belastung aufnehme und wie viel Kohlendioxid ich abgebe. Zudem wird gemessen, wie viele Liter Luft ich in der Minute einatme (das sogenannte Atemminutenvolumen) und wie häufig ich pro Minute ein- und ausschnaufe (die Atemfrequenz). Also setzt Gregory mir eine Maske auf und los geht’s.
Erst noch schön locker, aber dann steigt die Wattzahl und es wird strenger. Während ich in die Pedale trete, zeigt mir der Monitor Herzfrequenz, Dauer, Belastung und eine Reihe weiterer Daten an, die ich auf Anhieb aber nicht verstehe. Klar ist, hier wird genau geschaut, wie sich meine Physiologie unter steigender Belastung und in verschiedenen Herzfrequenzzonen verhält. Durch einen vom Erpse Institut eingesetzten Algorithmus kann Gregory zudem meinen täglichen Kalorienbedarf in Ruhe und unter Belastung errechnen.
Zuletzt piekst mir Gregory noch ins Ohr, um die Laktatwerte im Blut direkt nach dem Test auf dem stationären Velo und dann noch einmal nach drei Minuten zu messen. Auch dieser Test lässt Rückschlüsse auf den Zustand meines Stoffwechsels zu und zeigt, wie stark ich im anaeroben Bereich unterwegs war und wie viel Milchsäure gebildet wurde.
Gespannt warte ich auf die Ergebnisse. Schon cool, so einen genauen Einblick in den eigenen Stoffwechsel zu erhalten. Und nicht nur das: Jetzt werden die Analysedaten mit den Ergebnissen aus dem Fragebogen zusammengeführt, um zu erkennen, wo es hakt und wo es Verbesserungspotential gibt.
Zunächst geht's um das Zusammenspiel von Kopf und Körper. Gregory analysiert: «Vor allem im Bereich der körperlichen Regeneration sehen wir gewisse Defizite. Dein Kopf wird dies nicht ganz gleich wahrnehmen, wie dein Körper. Hier gilt es also, den Körper mehr ins Zentrum zu setzen und diesem auch die nötige Ruhe zu geben.» Volltreffer, muss ich zugeben, denn ich bewege mich sehr gern und habe fast immer Lust auf Sport. Das Ausruhen kommt da oft zu kurz.
Bei den physiologischen Daten gibt es fast nur gute Nachrichten – bis auf die Wassereinlagerungen und eine nicht optimale Erholung von den Trainingseinheiten, die ich auch selbst schon gespürt habe. «Es gilt also, mit deinem Vollgassystem auch Vollgas zu regenerieren, sodass du in einer optimalen Balance zwischen Aktion und Regeneration bist», rät Gregory. In diesem Fall bestätigen die Messungen genau das, was der Fragebogen schon ahnen liess.
Nach all den Analysen erhalte ich einen detaillierten und gleichzeitig sehr flexiblen Ernährungsplan. Für je drei Haupt- und zwei Zwischenmahlzeiten plus Snacks vor und nach dem Training gibt es Zutatenlisten, aus denen ich frei wählen kann. Das gefällt mir, denn so kann ich schauen, was mein Kühlschrank hergibt, worauf ich Appetit habe und dann etwas Entsprechendes zubereiten. «Achte darauf, dass du in der ersten Tageshälfte mehr Nährstoffe zu dir nimmst, als in der zweiten», rät Gregory. Von meinen nüchternen Trainingseinheiten, die ich oft morgens absolviert habe und davor weder Zeit noch Lust zum Essen hatte, hält er momentan nichts. «Ziel ist es, das Defizit beim Training so gering wie möglich zu halten, vor allem bei langen Einheiten.» Und hier kommen dann – zum Glück – doch noch die Gummibärchen ins Spiel, auf die ich nicht ganz verzichten möchte. Vor und während dem Training – auch am Morgen – liefern sie schnell verfügbare Energie und sind nicht nur erlaubt, sondern empfohlen. Hurra!
Ich bin sehr froh, eine Beratung gefunden zu haben, die sich tatsächlich auf meine Lebenssituation bezieht und auf konkreten Daten basiert. Eine Woche ist seit der Beratung vergangen, und ich habe mich weitgehend an den Ernährungsplan und die Empfehlungen gehalten. Ich habe mich auf die Regeneration konzentriert und weniger trainiert. Tagsüber so viel zu essen, wie es im Ernährungsplan angegeben wird, finde ich ein bisschen schwierig. Das bin ich nicht gewohnt. Sonst habe ich Mahlzeiten auch mal ausfallen lassen oder statt einem Mittagessen nur ein bisschen Obst gegessen und dann beim Abendessen geschlemmt. Aber das Essen nach Plan lohnt sich, denn ich sehe bereits Fortschritte. Tatsächlich ist meine Lust auf Süsses so gut wie ganz verschwunden. Was mich am meisten erstaunt: Mein Gewicht ist bereits um 1,5 Kilogramm gesunken und das, obwohl ich viel mehr esse. Um es ganz deutlich zu sagen: Gewicht zu verlieren war nicht mein Ziel, aber wenn ich jetzt das Wasser, das sich durch eine unvollständige Erholung in meinen Beinen gesammelt hatte, loswerde, dann ist das auf jeden Fall für mich, meine Gesundheit und mein Training eine gute Sache.
Forschungstaucherin, Outdoor-Guide und SUP-Instruktorin – Seen, Flüsse und Meere sind meine Spielplätze. Gern wechsel ich auch mal die Perspektive und schaue mir beim Trailrunning und Drohnenfliegen die Welt von oben an.