Ist Marvel am Ende? Ein Erklärungsversuch
Meinung

Ist Marvel am Ende? Ein Erklärungsversuch

Luca Fontana
7-3-2023

Kein anderes Film-Franchise darf auf eine grössere Erfolgsgeschichte zurückblicken als das Marvel Cinematic Universe. Trotzdem zweifle ich an dessen Zukunft. Steckt Marvel in der Krise?

«Jetzt ist es amtlich», erkläre ich meinen Kumpels, die zusammen mit mir gerade den Kinosaal verlassen, feierlich, «wenn Marvel so geile Filme über sprechende Waschbären und Bäume im All machen kann, dann können die alles!»

Es ist ein Sommerabend im Jahr 2014. «Guardians of the Galaxy» ist gerade mein Lieblingssuperheldenfilm geworden. Der Comic-Gigant, so scheint es, zementiert auf alle Zeit seine Spitzenposition. Schon bald wird kein Weg mehr ans Marvels Cinematic Universe (MCU) vorbeiführen. Kein anderes Franchise wird auf eine grössere Erfolgsgeschichte zurückblicken. Nicht mal alle «Lord of the Rings»-, «Star Wars»-, «Harry Potter»- und «Fantastic Beasts»-Filme zusammen.

Verrückt.

Fast neun Jahre später, das Jahr 2023: Die Dinge haben sich geändert. Das MCU steckt in der Krise. Die Umsätze schrumpfen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer laufen dem einst unbezwingbar wirkenden Giganten davon.

Ein Erklärungsversuch.

Wo bleibt die Begeisterung?

Meine Vorfreude sinkt mit jedem neuen Marvel-Film. Nicht, dass aus dem Hause Marvel nur noch schlechte Filme oder Serien kämen. «Spider-Man: No Way Home» war ein Fan-Service der Extraklasse. «Shang-Chi» die dringend benötigte Abwechslung zu den üblichen amerikanischen Settings. Mit «WandaVision» traute sich Marvel tatsächlich mal was Neues. Und «Loki» öffnete dem MCU interessante Türen.

Aber sonst so? Durchschnitt. Ganz viel Durchschnitt. Wenn überhaupt.

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Das war nicht immer so. 31 Filme hat das MCU bis dato hervorgebracht. Über 27 Milliarden Dollar haben die Superhelden-Streifen eingespielt. Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer stürmten auf der ganzen Welt die Kinosäle, selbst im ansonsten protektionistischen China, wo westliche Kinofilme nur in Ausnahmefällen gezeigt werden. Und all das bei guten bis sehr guten Kritiken.

Trotzdem haben sich in letzter Zeit einige Fragen über die Zukunft des MCUs aufgetan. Der letzte Marvel-Film, der mehr als 1 Milliarde Dollar an den Kassen eingespielt hat (und nicht von Sony produziert wurde), war «Avengers: Endgame». Vor vier Jahren. Dazu kommen die immer schlechteren Kritiken. Fünf der zehn am schlechtesten bewerteten Marvel-Filme entstanden zwischen 2021 und 2023. Und erst kürzlich verzeichnete «Ant-Man and the Wasp: Quantumania» den grössten Zuschauerrückgang, den ein Marvel-Film zwischen der ersten und zweiten Release-Woche je hatte.

Was geht da vor sich?

Wenn Filme zum Teaser für den nächsten Film werden

Die Menschen verlieren das Interesse. Ich auch. Denn viele meiner Lieblings-Charaktere sind inzwischen aus den Filmen ausgeschieden. Robert Downey Jr. als Iron Man zum Beispiel, oder Chris Evans als Captain America und Scarlett Johansson als Black Widow. Letztere verliess Marvel sogar im Streit. Dabei trieben sie und ihre beiden Kollegen jahrelang das Marvel-Dampfschiff an. Seit sie weg sind, ist es aber ein sinkendes Schiff geworden. Ohne sie wirkt es uninspiriert. Unmotiviert.

Führungslos.

Sicher, Marvel ist dabei, die Lücken wieder zu schliessen. Neue Charaktere einzuführen. Charaktere, die die Geschichte weitertragen und mein Interesse aufrechterhalten sollen. Gelingen will das bislang nicht – ausgerechnet Marvel, dessen grosse Stärke es doch immer war, fesselnde Geschichten über spannende Figuren zu erzählen, die nur «zufällig» Superheldinnen und Superhelden sind. Etwa, wenn sich der noch schmächtige Steve Rogers vermeintlich selbstopfernd auf eine Attrappen-Handgranate schmeisst, um die geeigneteren Kandidaten im Militär-Campus zu retten. Es ist die vielleicht heroischste Szene im ganzen Marvel-Universum, weil Steve zu dem Zeitpunkt noch nicht mal seine Superhelden-Kräfte hat, die ihn später zu Captain America machen.

Von dieser Aufrichtigkeit ist das Comic-Filmstudio längst weg. Seine Filme wurden zu teuren, aber effizienten Marketingkampagnen degradiert. Die Figuren darin zu Marken-Botschafterinnen und -Botschaftern. Jüngstes Beispiel: «Doctor Strange in the Multiverse of Madness». Kurzweilig ist der Film ja. Sind Marvel-Filme fast immer. Aber er ist genauso seicht und letztlich nichtssagend. Im Vordergrund stehen Cameo-Auftritte und Quer-Referenzen zu anderen Comicverfilmungen und -büchern. Gar regelrecht verschenkt wurden die Auftritte der «Fantastic Four» und «X-Men», weil konsequenzlos. Man hätte sie genauso gut aus dem «Multiverse» streichen können. Die Story wäre dieselbe geblieben. Nie ein gutes Zeichen fürs Drehbuch.

Aber so läuft das mit Marvel heutzutage: Die Marke macht Werbung für die Marke. Und nach dem Abspann kommt die obligatorische After-Credit-Szene, die – du errätst es schon – Werbung für den nächsten Film macht. Absurd, oder?

Das Disney-Channel-Problem

Dazu kommt, dass sich Marvel einem immer jüngeren Publikum anbiedert. Strategisch ergibtdas ja Sinn: Marvel ist eine Tochterfirma von Disney. Und Disney-Parks sind Disneys zweitgrösste Einnahmequelle nach den Kinoeinnahmen. Dass das Haus der Maus Synergien innerhalb des eigenen Portfolios nutzen will, liegt auf der Hand. Denken wir das Konzept also weiter: Wenn sich die Zielgruppe Marvels mit der üblichen Disneyland-Zielgruppe deckt – Familien mit jungen Kindern –, dann wird nicht nur das Interesse an Marvel-gewidmeten Themenbereichen in den Parks grösser, sondern auch deren Umsätze. Win-Win.

Voilà, willkommen im neuen Avengers-Campus im Disneyland Paris.

Ich persönlich kann mit diesem Wandel der Zielgruppe, der seit «Endgame» offensichtlich ist, nichts mehr anfangen. Und mit mir wohl Millionen Marvel-Fans weltweit. Achte zum Beispiel auf das durchschnittliche Alter des Casts: Frühere tragende Charaktere wie Tony Stark, Bruce Banner, Thor, Hawkeye, Steve Rogers, Doctor Strange, Black Widow, Black Panther und Star-Lord wurden von Schauspielenden in ihren späten 30ern oder sogar frühen 40ern gespielt. Das führt nicht nur zu automatisch reiferen schauspielerischen Leistungen, sondern auch zu reiferen Geschichten. Etwa über Faschismus. Rassismus. Oder sogar über posttraumatische Belastungsstörungen. Trotz Marvel-Humor: Die früheren Filme nahmen sich meistens ernst. Ernst genug, zumindest.

Heute? Eher nicht. Selbst «She-Hulk», das eigentlich ein sozialkritischer Kommentar über die Rolle der Frau in der von Männern dominierten Gesellschaft sein wollte, fiel reichlich flach und der Humor darin entsetzlich dumm aus. Was meiner Meinung nach ein guter und mutiger Ansatz war, verkam zur Persiflage, die am Ende sogar mit Absicht so schlecht geschrieben wurde, dass sich selbst die Hauptfigur via Meta-Ebene darüber beklagte. Wie konnte Marvel ernsthaft denken, dass das MCU sowas bräuchte!?

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Dabei hätten sich die Macherinnen mit der 37-jährigen Tatiana Maslany die Dienste einer überaus fähigen und talentierten Hauptdarstellerin gesichert. Zu gross wohl der Drang, Inhalte auf Disney-Channel-Niveau zu liefern, statt echte und gut gemachte Sozialkritik zu üben. Mit «The Last Duel» hätte Marvel nicht mal über die eigene Streamingplattform hinaus spionieren müssen, um zu sehen, wie’s richtig geht.

Die meisten anderen Marvel-Produktionen hingegen erzwingen das Disney-Channel-Niveau einfach damit, den Altersschnitt des Casts dramatisch zu senken. Selbst dann, wenn die «Alte Garde» noch die Hauptfiguren sind, weil ihnen jüngere Nebenfiguren zur Seite gestellt werden. Denn kein Marvel-Superhelden-Film darf ohne junge Sidekicks auskommen. Ohne neue Generation. Jemandem muss die Fackel ja übergeben werden. Nur macht diese neue Generation überhaupt keine Lust auf neue Filme. America Chavez in «Multiverse of Madness» ist kein Charakter, sondern ein MacGuffin. Cassie Lang in «Quantumania» der nervige Stereotyp einer rebellischen, pubertierenden Tochter. Dann haben wir noch Riri Williams als Iron-Man-Nachfolgerin in «Black Panther: Wakanda Forever». Auch bei ihr will der Funke nicht so recht überspringen. Genauso wenig wie bei Kate Bishop in «Hawkeye». Eher noch bei Yelena Belova in «Black Widow».

Oder Ms. Marvel im kommenden «The Marvels». Sie dürfte wohl die Nachfolge von Captain Marvel antreten, weil Captain-Marvel-Schauspielerin Brie Larson beim Publikum bereits unten durch ist. Und jep: Da ist ziemlich viel Marvel in einem Satz. Ich sage ja, die Filme sind pures Marketing. Selbst die Figuren darin werden nach der eigenen Marke benannt.

Das Problem: Von all diesen jungen Darstellern kommen meist nicht nur wackelige schauspielerische Leistungen, sondern auch der infantile Disney-Channel-Humor. Am liebsten würde ich einfach nur mit den Augen rollen. Die Geschichten haben selten Tiefe. Selten Gravitas. Alles wirkt seicht und auf schnelle Lacher ausgerichtet. Lacher, die ich nicht mehr lustig finde. Nicht so lustig wie früher. Damit kann ich mich nicht mehr identifizieren. Kollegin Michelle Brändle hat dieses wachsende Ungleichgewicht erst kürzlich im digitec Podcast treffend in Worte gefasst:

«Die Figuren in den Filmen werden immer jünger, während wir, die aktuelle Fanbase, immer älter wird.»

Die Qual der Wahl – im buchstäblichen Sinn

Ich habe noch nicht fertig. Marvel begeht nämlich noch einen weiteren Fehler. Nicht nur, dass die Filme zunehmend an Qualität verlieren (das Fass mit den immer schlechter werdenden Computereffekten mache ich gar nicht erst auf). Es werden auch immer mehr Filme. Und Serien. Und TV-Specials. In Zahlen:

  • Phase 1 des MCUs: 6x Filme (2008 - 2012)
  • Phase 2 des MCUs: 6x Filme (2013 - 2015)
  • Phase 3 des MCUs: 11x Filme (2016 - 2019)

Zusammengefasst: Die ersten drei Phasen des MCUs, die die Infinity-Saga erzählten, bescherten uns 23 Filme in elf Jahren. Das sind im Schnitt etwa zwei Filme pro Jahr, mit leicht zunehmender Tendenz in Phase 3.

Inzwischen befinden wir uns in Phase 5, das erst kürzlich mit «Quantumania» gestartet ist. Davor erlebten wir mit Phase 4 folgendes:

  • 7x Filme (2020 - 2022)
  • 8x Serien (2020 - 2022)
  • 2x TV-Specials (2020 - 2022)

Mit anderen Worten: Die mit Phase 4 gestartete Multiverse-Saga umfasst ohne «Ant-Man» bereits 17 Filme, Serien und TV-Specials in nur zwei Jahren – also etwa acht bis neun (!) Filme, Serien oder TV-Specials pro Jahr (!!). Eine immense Steigerung gegenüber allen anderen Phasen. Kein Wunder, fühlen sich Marvel-Filme und -Serien mehr wie Hausaufgaben als langerwartete Events an, die es zu erledigen gibt, um der Story weiter folgen zu können.

Aber als ob die schiere Anzahl neuer Inhalte nicht schon genug wäre, haben sie die Multiverse-Saga kaum je wirklich weitergeführt. Wenigstens nicht so, wie die Suche nach den Infinity-Stones zuvor den roten Faden in der Infinity-Saga gesponnen hat. Da wurden in weniger Filmen mehr Geschichten erzählt. In Phase 4 hingegen wirkten viele Filme und Serien eher wie Nachträge zur Infinity-Saga.

Etwa «WandaVision» oder «Falcon and the Winter Soldier», die sich mit den Auswirkungen des «Blips» beschäftigten. «Black Widow» spielte gar vor den Ereignissen von «Endgame». «Multiverse of Madness» spielte zwar mit dem Multiversum, allerdings nur, um witzlose Cameo-Auftritte zu zelebrieren (das hatten wir schon). Wozu war «Thor: Love and Thunder» eigentlich da? Selbst «Shang-Chi» treibt etwas konzeptlos im MCU umher. Ich könnte fast ewig so weitermachen.

Was fehlt dem MCU denn?

Was dem MCU fehlt, ist eine durchdachte Marschrichtung. Ein Konzept. Eines, das mehr auf Qualität statt Quantität setzt. Eines, in dem die Charaktere, nicht die Marke, ins Zentrum der Geschichten rücken. Und vor allem eines, das nicht auf den billigen Humor setzt, über den nur Kinder am Samstagmorgen beim Schauen von Disney Channel lachen.

Was Marvel also braucht, ist das, was es erst kürzlich für «Andor» im Star-Wars-Universum brauchte und ebenfalls Disney angegliedert ist: Mut. Mut zu einer reifen Geschichte. Einer mit echten Auswirkungen und Konsequenzen. Und zwar so geschrieben, dass sie nicht die Intelligenz des Durchschnittszuschauers beleidigt.

Im Moment tut Marvel das genaue Gegenteil. Über die «My name is Darren and I am not a dick»-Szene im letzten «Ant-Man»-Film bin ich noch nicht hinweg. Genauso wenig über den Auftritt einer Schauspiellegende, die sich wohl um des hohen Gehalts Willen für ein Cameo hergab. Darin wird besagte Legende nach nur fünf Filmminuten bereits wieder von einem Tentakel-Cocktail gefressen (frag nicht). Echt Marvel, was machst du da!?

Ich weiss es nicht. Das Multiversum klang bei seiner Einführung in «Loki» noch spannend. Nunmehr ist es zu einem erzählerischen Kniff verkommen, mit dem jede Konsequenz rückgängig gemacht werden kann. Wenn nötig. Also wenn die Vertragsverhandlungen mit Schauspielerin X oder Schauspieler Y glücken. So macht das keinen Spass mehr.

Zumindest mir nicht.

Titelfoto: «She-Hulk», Disney / Marvel Studios

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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