«Neva» ist von atemberaubender Schönheit
«Neva», das zweite Spiel der «Gris»-Schöpfer, ist ein Kunstwerk. Gameplaytechnisch macht es wenig neu, aber die Präsentation und Geschichte sind schlicht genial.
Die Sonne scheint, der Wald strahlt in kräftigem Grün, die Blumen stehen in voller Blüte. Alles ist voller Leben. Ein Vogel fliegt am Himmel. Unerwartet stürzt er zu Boden und stirbt. Schwarze Blüten wachsen aus ihm heraus. Ein Wolfskind, seine Mutter und eine Frau nähern sich ihm. Lange können sie den toten Vogel nicht inspizieren. Ein grosser Schatten zieht auf, schemenhafte Kreaturen attackieren sie. Die Frau, Alba, wird während des Kampfs bewusstlos. Die Wolfsmutter kann die Kreaturen aufhalten, stirbt aber den Heldentod. Als Alba aufwacht, ist sie schockiert und untröstlich. Da kommt das ebenfalls trauernde Wolfskind, Neva. Alba muss jetzt stark sein und für Neva sorgen.
Im Intro von «Neva» wird eine Eltern-Kind-Beziehung ausgelöscht, eine neue entsteht.
Elternschaft ist das zentrale Thema von «Neva». Damit ist das Spiel deutlich weniger abstrakt als das Erstlingswerk von Nomada Studio «Gris». Die Handschrift der Entwickler ist aber deutlich erkennbar, nicht nur im Artstyle. Gameplaymässig gesellt sich zu den Plattformer-Elementen und Puzzles des Erstlings der Kampf hinzu. Der Fokus liegt aber nach wie vor auf der Erzählung. Entstanden ist ein Spiel, das mich ganz ohne Dialoge mehr als einmal zu Tränen rührt.
Sommer: Die junge Neva entdeckt die Welt
Nach dem Intro begeben sich Alba und Neva auf die Suche nach einem neuen Zuhause. Das Spiel ist in Kapitel mit Unterkapiteln aufgeteilt. Jedes Kapitel spielt in einer Jahreszeit. Im Verlauf wächst Neva von der Welpe zur rebellischen Jährling und schliesslich zur jungen Fähe heran. Wie bereits bei «Gris» spielen Farben eine Rolle – wenn auch ein untergeordnete.
Das Spiel beginnt im Sommer. Alles leuchtet, Grüntöne dominieren. Psychologisch verbinden wir mit dem Farbton Glück, Hoffnung, Leben, Natur, Zufriedenheit und Regeneration, aber auch Unreife. So ist Neva denn auch fröhlich und verspielt. Alba muss die Rüdin beschützen, ihr Dinge beibringen. Manchmal läuft sie davon und begibt sich in Gefahr. Sie braucht viel Nähe und Aufmerksamkeit. Und ja: Ich kann Neva streicheln!
In diesem Kapitel werde ich langsam ans Gameplay herangeführt. Dieses ist simpel, aber ausgereift. Ich steuere Alba. Ihr ganzes Moveset ist von Beginn weg verfügbar. Ich lerne weder neue Skills, noch kann ich Dinge ausrüsten. Springen, inklusive Doppelsprung, Angreifen, Ausweichen und an gewissen Wänden hochklettern gehört zu ihrem Repertoire. Die Steuerung fühlt sich organisch an und reagiert zuverlässig. Es macht Spass, Alba und Neva bei ihrem Abenteuer zu steuern.
Die Gegner bewegen sich am Anfang gar nicht. Erst mit der Zeit muss ich vom Ausweich-Manöver Gebrauch machen und werde ebenfalls angegriffen. Bist du Fan von Anime-Filmen des Studio Ghibli, werden dich die Gegner und die Welt an «Prinzessin Mononoke» oder «Chihiros Reise ins Zauberland» erinnern. Das ist kein Zufall: Die Entwickler geben diese Werke als Inspiration an. Mit ersterem Werk teilt «Neva» ein weiteres Leitmotiv: die Wichtigkeit der Natur und deren Schutz.
Herbst: Die adoleszente Neva wird selbständig
Das Gameplay entwickelt sich mit der Zeit. So werden die Gegner deutlich aggressiver und ergreifen, wie in «Prinzessin Mononoke», von Tieren Besitz. Wo sich Albas Moveset nicht verändert, wächst Neva – und zwar wortwörtlich. Im Herbst ist sie adoleszent. Sie muss nicht mehr ständig beschützt werden, ist selbständiger und greift in den Kampf ein. Ich kann ihr auch befehlen, zu attackieren.
In der herbstlichen Spielwelt dominieren nun Rot- und Gelbtöne, was farbpsychologisch zur Adoleszenz passt. Nicht nur der dominierende Farbton verändert sich, auch die Welt. Sie bekommt wortwörtlich Risse. Wände zerbröckeln, während ich sie erklimme, der Boden, auf dem ich laufe, bricht auseinander. Dadurch wird das Plattformer-Gameplay vom Sommer um zusätzliche Komponenten erweitert. Die Risse stehen auch metaphorisch für die bröckelnde Mutter-Kind-Beziehung zwischen Alba und Neva.
In einem Unterkapitel werde ich etwa in die düstere Traumwelt von Alba gerissen. Hier werden ihre Ängste vor dem Verlust der Tochter verhandelt. Statt Rot dominiert zunächst Schwarz, was die Angst vor dem Verlust untermauert. Erst mit der Zeit wechselt die Farbpalette wieder auf Rot, was die Liebe zwischen den beiden widerspiegelt. Alba realisiert, dass sie Neva nicht verliert, sie aber lernen muss, loszulassen.
Winter: Die Erwachsene Neva zieht weiter
Neva ist erwachsen geworden. Sie kämpft nicht nur mit Alba zusammen, sondern lässt sie auch auf sich reiten. Die beiden sind gleichberechtigte Partner geworden. Passend zum jungen Erwachsenenalter wird die Farbpalette nun von Blau- und Violett-Tönen dominiert. Die karge Landschaft, durch welche die beiden streifen, bietet die Möglichkeit, sich zu verändern. Dies ergibt sich für Neva. Für Alba ist es an der Zeit, sie ziehen zu lassen.
Durch das Reiten ergeben sich neue Plattformer-Elemente. Trotzdem ist «Neva» kein Spiel, das auf Erkundung setzt. Die Level sind linear. Nur selten kann ich den eigentlichen Weg verlassen. Etwa, um nach optionalen weissen Blumen zu suchen.
Neu hinzu kommen Spiegelwelten. So wird die Spielwelt in der Mitte horizontal oder vertikal gespiegelt. Die beiden Seiten unterscheiden sich aber. Die Gegner erscheinen etwa nur in der Spiegelwelt, können mich aber dennoch in der Diesseitigen angreifen. Ich muss dann in ersterer gegen sie kämpfen, wobei links und rechts vertauscht sind. Oder bei Plattformerpassagen sind gewisse Plattformen nur in der Spiegelwelt sichtbar, aber auch in der physischen vorhanden.
Auch die Gegner haben dazugelernt. Sie kämpfen nun auch mit Blöcken als Waffen. Wie bereits im Herbst, als sie von Tieren Besitz ergriffen, muss ich mich im Kampf umgewöhnen. Das hält das Kampfsystem frisch.
Frühling: ein Wiederanfang
Der Zyklus schliesst sich im Frühling. Alles blüht, das Leben kehrt zurück. So ist die Welt denn auch in alle erdenklichen Farbtöne gehüllt. Es ist ein Zurückkehren an den Anfang, auch für Neva und Alba.
Meine Reise mit den beiden Protagonistinnen kommt nach etwas mehr als fünf Stunden zu einem Ende. Ich konnte mich an den Landschaften nicht sattsehen und habe sie teilweise minutenlang angestarrt.
Genauso schön wie die Präsentation ist der Soundtrack. Für diesen zeichnet, sich wie schon beim Vorgänger «Gris», Berlinist verantwortlich. Er nimmt die Stimmungen der jeweiligen Gebiete perfekt auf. Vor allem der Soundtrack bei Bosskämpfen ist episch und ich habe jeweils voll aufgedreht.
Apropos Bosskämpfe: Wie auch die regulären Gegner sind sie keine grosse Herausforderung. Hast du ihr Moveset durchschaut, machst du sie ohne Probleme platt. Falls dir das Spiel doch zu schwierig sein sollte oder du einfach nur die Story geniessen willst, steht ein entsprechender Modus zur Verfügung. Dort kannst du nicht sterben und die Gegner sind leichter zu besiegen.
Neva erscheint am 15. Oktober 2024 auf Nintendo Switch, PlayStation 5, Microsoft Windows, Xbox Series und macOS. Das Spiel wurde mir zu Testzwecken von Devolver Digital zur Verfügung gestellt.
Fazit
Ein spielbares Kunstwerk
«Neva» sieht und hört sich phänomenal an. Dazu gesellt sich eine emotionale Geschichte, die auch ganz ohne Dialoge auskommt. Das Gameplay ist nicht revolutionär, aber die Charaktere steuern sich einwandfrei.
Trotz begrenztem Moveset gelingt es dem Spiel, während der gesamten Dauer nicht repetitiv zu werden. Das erreichen die Entwickler von Nomada Studio durch geschickte Veränderungen der Spielwelt und zunehmend intelligenteren Gegnern. Dass das Spiel relativ kurz ist, hilft ebenfalls. Dabei hat es genau die richtige Länge.
Die Entwickler haben das bereits sensationelle Prinzip ihres Erstlings «Gris» an den entscheidenden Stellen verbessert und erweitert. Kurz: «Neva» ist ein Must-Play.
Pro
- wunderschöner Artstyle
- Hammer-Soundtrack
- emotionale Geschichte
- simple, aber ausgeklügelte Steuerung
Contra
- wenig innovatives Gameplay
Technologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.