Kritik

«Atomfall» im Test: Spannendes Konzept, holprige Umsetzung

«Atomfall» bringt die nukleare Apokalypse ins beschauliche englische Hinterland. Die britische «Fallout»-Alternative erzählt eine packende Geschichte, legt mir beim Entdecken aber haufenweise Steine in den Weg.

Erst war ich fasziniert, dann hätte ich es am liebsten für immer wieder weggelegt und am Schluss konnte ich nicht mehr aufhören. Meine Zeit mit «Atomfall» war ein Auf und Ab. Das Konzept des britischen «Fallouts» mit kompakter Welt, weit weg vom immer gleichen amerikanischen Setting, hat mich vom ersten Trailer an gepackt. Meine kurze Anspielsession an der letztjährigen Gamescom hat die Vorfreude nur gestärkt. Als ich dann vor einer Woche den Review-Code bekommen und das Spiel installiert habe, wich die Begeisterung schnell Ernüchterung. «Atomfall» ist bei weitem kein perfektes Spiel und doch musste ich einfach wissen, was sich in dieser nordenglischen Apokalypse zugetragen hat.

Keine Ahnung, wer ich bin, aber holt mich hier raus!

Das Spiel beginnt mit einer kurzen Rückblende. Die britische Regierung hat 1957 in Windscale ein hochmodernes Atomkraftwerk fertiggestellt. Doch schon kurz nach der Eröffnung kommt es zur Katastrophe. Das Gebiet wird grossräumig abgeriegelt und zu Sperrzone erklärt. Das Militär bringt Truppen und Panzer in Stellung. Es ist klar, hier ist irgendwas im Busch. Fünf Jahre später ist die Zone immer noch von der Aussenwelt abgeschottet. Niemand weiss, was genau passiert ist – sowohl mit dem Kraftwerk als auch mit den Bewohnern, die nicht rechtzeitig flüchten konnten.

Immer noch leben einige Bewohner in der Sperrzone.
Immer noch leben einige Bewohner in der Sperrzone.
Quelle: Rebellion

In dieser Situation erwache ich in einem Bunker. Ich habe keine Ahnung, wer ich bin oder wie ich hergekommen bin – soweit so (un)originell. Ich weiss nur, dass ich aus der Zone rauswill. Damit beginnt mein Abenteuer. Ich stolpere aus dem Bunker und blicke einer blühenden britischen Landschaft entgegen. Anders als «Fallout» und Co. ist «Atomfall» deutlich farbenfroher. Die Apokalypse hat für einmal kein trostloses Ödland hinterlassen. Die Spuren der Katastrophe sind dennoch unübersehbar. Zerstörte Häuser und ausgebrannte Panzer sind allgegenwärtig. Und wie in jeder Apokalypse haben sich bereits Fraktionen gebildet, die durch die Gegend streifen.

«Atomfall» wurde von Rebellion entwickelt. Das gleiche Studio, das die «Sniper Elite»-Spiele herausbringt. So erinnern dann auch die Level unweigerlich an den Scharfschützen-Simulator. Statt einer gigantischen offenen Spielwelt besteht «Atomfall» aus einer Handvoll Gebieten, die zusammengenommen wohl immer noch kleiner wären als die Welt von «Fallout 4».

Die verschiedenen Gebiete sind überschaubar, bieten jedoch trotzdem viel zum Entdecken.
Die verschiedenen Gebiete sind überschaubar, bieten jedoch trotzdem viel zum Entdecken.
Quelle: Philipp Rüegg

Nicht nur die Amnesie ist zum Vergessen

Wenn du mit dem empfohlenen Schwierigkeitsgrad «Überlebender» spielst, gibt dir das Spiel nur vage Anhaltspunkte, wohin du gehen sollst. Das Spiel setzt auf ein Hinweissystem. Durch Notizen und Gespräche erhältst du Tipps, wo du als Nächstes hinkönntest. Und damit sind wir schon bei meinem grössten Kritikpunkt. Das Hinweissystem ist verworren und unübersichtlich. Schon nach kurzer Zeit ist mein Log übersät mit kryptischen Hinweisen, die nicht mal sinnvoll sortiert sind. Ich habe keine Ahnung, was wichtig ist und was Nebenaufgaben sind.

Der Ansatz, nicht alles direkt auf die Nase zu binden, ist durchaus interessant, aber die Umsetzung funktioniert überhaupt nicht. Ich komme mir vor, als müsste ich einer wildfremden Person die Steuererklärung ausfüllen, aber die Unterlagen werden mir unbeschriftet und unkommentiert an den Kopf geworfen.

Das Questlog liefert kaum nützliche Hinweise.
Das Questlog liefert kaum nützliche Hinweise.
Quelle: Philipp Rüegg

Wäre ich die Person im Spiel, würde ich mir wichtige Hinweise aufschreiben, statt jede noch so wirre Notiz zu behalten. Will ich etwas verstehen, müsste ich mir eigene Notizen machen. Aber genau dafür haben Spiele doch Questslogs erfunden. Für das letzte Drittel im Spiel habe ich den Schwierigkeitsgrad in allen drei Kategorien «Überleben»,«Kampf» und «Entdeckung» auf die einfachste Stufe gestellt. So erfahre ich nicht nur, welche Hinweise zur Hauptquest gehören, mir wird auch das Ziel auf der Karte angezeigt.

Ich erkunde zwar gerne Welten, ohne dass mir ständig gesagt wird, wohin ich muss. Bei «Atomfall» fühle ich mich aber zu verloren. Die ersten zehn Stunden bin ich meist ziellos durch die Gegend geirrt. Das ist auch gar nicht verkehrt, denn die verlassene nordenglische Gegend hat verdammt viel Charme. Rebellion holt Erstaunliches aus ihrer Asura-Engine heraus.

Das Spiel ist zwar kein neuer Grafik-Benchmark, weiss aber dennoch zu beeindrucken.
Das Spiel ist zwar kein neuer Grafik-Benchmark, weiss aber dennoch zu beeindrucken.
Quelle: Philipp Rüegg

Das Spiel läuft selbst auf dem ROG Ally X butterweich und sieht dennoch schick aus. Überwachsene Panzer, malerische Dörfer und jede Menge grüne Landschaften laden zum Entdecken ein. Obwohl, so richtig wie ein Entdecker fühle ich mich dann doch nicht. Dafür sind die Areale zu klein und Wahrzeichen zu dicht beieinander. Ich laufe zwangsläufig alle spannenden Sachen an. Wenn du aber wie ich ein Flair für postapokalyptische Welten hast, wirst du dennoch viel Freude am Lüften der Geheimnisse dieser Welt haben.

Was ist hier im Busch?

Der Welt ihre Geheimnisse zu entlocken, war klar meine Hauptmotivation. Das Spiel beginnt damit, dass es in einer dieser kultigen roten Telefonkabinen klingelt. Eine roboterartige Stimme befiehlt mir, Oberon zu töten. Wer oder was das ist, geschweige denn, wo ich ihn finde, verrät mir die Stimme nicht. Praktisch jedes Mal, wenn ich an einer Telefonkabine vorbeilaufe, klingelt es und die Stimme kommentiert das aktuelle Geschehen.

Diesem komischen Kauz bin ich in einer Mine begegnet. Für einmal eine Person, die mich nicht auf Botengänge schickt.
Diesem komischen Kauz bin ich in einer Mine begegnet. Für einmal eine Person, die mich nicht auf Botengänge schickt.
Quelle: Rebellion

Nebst streunende Banditen, die lieber ihre Waffen sprechen lassen, als gepflegt mit mir Tee zu trinken, begegne ich auch den verbleibenden Einwohnern. Da wäre Captain Grant Sims, der vom Städtchen Wyndham aus sein autoritäres Militärregime kontrolliert. Für ihn soll ich Dr. Diane Garrow verhören. Die Atomphysikerin, die mit einem Militärkonvoi zurück in die Zone geflogen ist, soll die Wurzel allen Übels sein. Dann gibt es eine Art Kräuterhexe namens Mutter Jago. Sie ist eins mit der Natur, die durch die Katastrophe sonderbare Früchte getragen hat. Sie ist mit den Druiden befreundet, einer weiteren Fraktion, die in der Zone entstanden ist. Die Figuren sind toll vertont, mit dicken englischen Akzenten. Die Fraktionen selbst bleiben hingegen relativ blass.

Immer der Nase nach

Auch wenn ich mit dem Hinweissystem wenig anfangen kann, ist selbst mir schnell klar, dass viele Wege aus Windscale herausführen. Für die meisten muss ich für die Hauptcharaktere wie Captain Sims Gefälligkeiten erledigen. Da sich aber auch daraus selten mehr als unpräzise Kritzeleien auf der Karte ergeben, laufe ich meist einfach der Nase nach. So stolpere ich schnell in den ersten Bunker, der mich in eine unterirdische Forschungsanlage führt, die mit dem zerstörten Kraftwerk verknüpft ist – sofern es denn wirklich ein Kraftwerk ist.

Überall finde ich Überreste der gescheiterten Militärintervention.
Überall finde ich Überreste der gescheiterten Militärintervention.
Quelle: Rebellion

Die Anlage ist das, was einem Schnellreisesystem am nächsten kommt. Um es effizient zu nutzen und damit gleichzeitig das Geheimnis der Anlage zu lüften, muss ich verschiedene Schlüssel, Sicherheitskarten und Batterien finden. Mit letzteren stelle ich an verschiedenen Orten die Stromversorgung wieder her.

Später erhalte ich noch ein Werkzeug, um den Strom umzuleiten. Entweder um automatische Geschütztürme zu deaktivieren oder um Türen zu öffnen. Da nichts davon auf der Karte eingezeichnet wird, muss ich mir selber merken, wo ich in den zunehmend labyrinthischen Leveln noch eine Türe aufschliessen oder einen Schalter umlegen kann. Dennoch tauche ich immer tiefer in die Welt ein. Auch wenn ich nur einen Bruchteil der unzähligen Notizen lese, fügen sich immer mehr Puzzleteile zusammen, um das Rätsel hinter der Zone zu lösen.

Einen Metalldetektor gibt es auch noch, mehr als ein Gimmick ist er aber nicht.
Einen Metalldetektor gibt es auch noch, mehr als ein Gimmick ist er aber nicht.
Quelle: Rebellion

Eine holprige Angelegenheit

Leider legt mir das Spiel jede Menge Stolpersteine in den Weg. «Atomfall» will auch ein Survival-Game sein, das heisst, Gegner sind zäh, Munition und Verbandszeug sind rar und das Inventar klein. Es gibt auch einen Skilltree und ein Craftingsystem – beide mit eher eingeschränktem Nutzen. Der Skilltree besitzt wenig nützliche Eigenschaften und etwas anderes als Verbandsmaterial habe ich selten hergestellt.

Gekämpft wird gerade zu Beginn primär mit Nahkampfwaffen wie Cricketschlägern und Äxten. Die Gegner sind nicht die hellsten und können auch lautlos ausgeschaltet werden. Meistens funktioniert das aber nur beim Ersten einer Gruppe. Nahkampfduelle werden schnell zum chaotischen Gefuchtel und machen wenig Spass. Ausser, als ich einmal zwei Gegner mit einem wuchtigen Axtschlag erledige, fühlt sich der Nahkampf unbefriedigend an. Mit Schusswaffen verhält es sich etwas besser. Gegen die ghoulartigen Infizierten ist es auch damit ein Krampf, weil immer gleich alle auf einmal heranstürmen. Eine interessante Abwechslung sind die haushohen Kampfroboter. Die muss ich erst durch Angriffe überhitzen, um ihnen anschliessend genügend schnell die Batterie auszubauen.

Um die Kampfroboter machst du anfangs besser einen grossen Bogen.
Um die Kampfroboter machst du anfangs besser einen grossen Bogen.
Quelle: Rebellion

Das Kampfsystem bleibt bis zum Schluss nur zweckmässig. Ich kann es «Atomfall» darum gar nicht genug hoch danken, dass ich bei meinen Erkundungen oft allein gelassen werde. Ich geniesse es richtig, die unheimlichen Überreste der Katastrophe zu erkunden, ohne ständig angegriffen zu werden. Erst gegen Ende des Spiels schraubt auch «Atomfall» die Gegnerkadenz in die Höhe. Da ich dann auch mit besseren Waffen und mehr Munition ausgestattet bin, ist das zum Glück kein grosses Ärgernis.

Anders sieht es bei meinen Fortbewegungsmöglichkeiten aus. Selbst wenn ich nicht direkt von «Assassin’s Creed Shadows» käme, hätte mich das starre Bewegungsmuster genervt. Meine Figur kann gerade mal kleine Zäune überwinden. Und auch nur solche, die dafür vorgesehen sind. Oft sind selbst kniehohe Felsen unüberwindbare Hindernisse. Meine Figur scheint unter fortgeschrittener Arthrose zu leiden. Auch die kleinste Steigung ist zu sportlich für mich und ich muss mich an den Weg halten. Da die Welt relativ linear designt ist und sich das meiste entlang klar markierter Wege befindet, fällt es nicht ganz so stark ins Gewicht. Es nervt mich manchmal dennoch.

Gerade der Nahkampf macht wenig Spass.
Gerade der Nahkampf macht wenig Spass.
Quelle: Rebellion

Ebenfalls nervt die Fauna. Im Wasser lauern gefrässige Fische, an Bäumen sind es aggressive Bienen und in Höhlen Fledermäuse sowie Ratten – alle wollen mir ständig ans Leder. Fledermäuse mit einem Kick abwehren, ist zwar das erste Mal witzig, wirklich effizient ist es nicht. Am Ende nerven die Viecher einfach, wie die meisten Gegner im Spiel. Lasst mich doch einfach in Ruhe die Apokalypse geniessen, ist das zu viel verlangt?

Zu viel Immersion solltest du ebenfalls nicht erwarten. Den Bewohnern ist es völlig schnuppe, wenn du mit gezückter Axt durch ihre Kirche rennst und Verbände und Munition unter ihrer Nase einpackst. Wirst du allerdings in einem unbefugten Bereich entdeckt, ist sofort die gesamte Umgebung alarmiert. Die KI ist genauso dumm wie in «Sniper Elite». Immerhin reagiert sie darauf, ob ich bewaffnet bin oder nicht. Ziele ich mit einer Schusswaffe, bleiben sie auf Abstand, halte ich eine Axt, stürmen sie auf mich zu. Das war’s dann aber auch schon mit der Intelligenz.

In dieser Kirche scheint weder Mord noch Diebstahl eine der sieben Todsünden zu sein. Zumindest zuckt niemand mit der Schulter, wenn ich vor ihren Augen Dinge einpacke.
In dieser Kirche scheint weder Mord noch Diebstahl eine der sieben Todsünden zu sein. Zumindest zuckt niemand mit der Schulter, wenn ich vor ihren Augen Dinge einpacke.
Quelle: Philipp Rüegg

«Atomfall» wurde mir von Rebellion zur Verfügung gestellt. Ich habe die PC-Version getestet. Das Spiel ist für PC, PS4, PS5, Xbox One und Xbox Series X/S erhältlich.

Mehr über das Thema reden wir in der aktuellen Folge des Tech-telmechtel-Podcasts.

Fazit

Charmant, aber holprig wie eine unpräparierte Landstrasse

Allen Widrigkeiten zum Trotz lief nach rund 15 Stunden der Abspann über meinen Bildschirm. Zehn Stunden mehr hätte ich sicherlich dranhängen können, wenn ich mehr Quests erledigt hätte – wollte ich aber nicht. Mehr interessieren mich die verschiedenen Enden, die das Spiel offensichtlich bereithält. Die schaue ich mir aber lieber gemütlich auf Youtube an. Trotzdem bin ich froh, dass ich «Atomfall» durchgezockt habe. Auch wenn das Hinweissystem unbrauchbar ist, die Levels oft verwirrend und das Kampfsystem nur zweckdienlich, hat mich das Spiel bis zum Schluss gepackt.

Das postapokalyptische Sperrgebiet in einem nordenglischen Kaff ist erfrischend unverbraucht. Statt dem üblichen braungrauen Ödland gibt es hier blühende Wiesen und schmucke Steinhäuser. Das Geheimnis um die Katastrophe ist am Ende nichts, was ich nicht schon irgendwo mal gesehen habe. Wie es erzählt und präsentiert wird, hat mir aber sehr gemundet.

«Atomfall» besitzt offensichtliche Mängel, aber den Charme kann ich ihm nicht absprechen. Wenn du Lust auf eine etwas andere und farbenfrohere Postapokalypse hast, dann kann ich dir «Atomfall» dennoch empfehlen. Warte vielleicht einfach nicht so lange wie ich, bis du den Schwierigkeitsgrad nach unten korrigierst.

Pro

  • faszinierende Welt, die zum Entdecken einlädt
  • packende Geschichte
  • unverbrauchtes Setting

Contra

  • Hinweissystem ist unbrauchbar
  • Gegner dumm wie Brot
  • verschachtelte Welt, die ohne Navigationshilfe fast unergründlich ist
  • Nahkampfsystem ungenau und unbefriedigend
Sold Out Atomfall (PS5, DE)
Game

Sold Out Atomfall

PS5, DE

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