Nackenschmerzen: Haben mit dem Handy zu tun, beginnen aber früher
Hintergrund

Nackenschmerzen: Haben mit dem Handy zu tun, beginnen aber früher

Nackenprobleme beginnen, bevor der Mensch noch laufen kann: im Mutterleib. Dass wir später stundenlang aufs Handy starren, macht die Sache nicht besser. Im Teil 1 unserer Serie erfährst du alles über die Ursachen von Nackenschmerzen.

Physisch ist Anna Fiand kein großes Kaliber. Fachlich schon. Wenn die schlanke Chiropraktorin sich mit dem Unterarm auf den Nacken lehnt, stöhnt man nicht unter ihrer Last. Man ist eher verblüfft. Sie macht es zweimal. Sitzt man aufrecht auf dem Stuhl, fühlt es sich nicht nach Belastung an. Vom Gewicht her etwa so, als würde es sich eine Katze dort bequem machen. Dann krümmt man den Rücken, sinkt in die typische schlampige Schreibtischhaltung. Und auf einmal lastet Anna auf den Schultern, als wäre sie ein Muskelprotz. Die unterschiedliche Belastung ist deutlich spürbar. Man begreift, welche Welten zwischen richtiger und falscher Haltung liegen.

Das Experiment findet in der Praxis statt, der Chiropraktik Wien, die Anna Fiand, Master of Sience Chiropraktik und Physiotherapeutin, gemeinsam mit Chiropraktiker und Physiotherapeut Wolfgang Placht leitet. «Seit Corona haben wir das Wartezimmer voll mit Problemen an der Halswirbelsäule», sagt sie, «die Beschwerden sind nicht neu, sie sind mit dem Homeoffice nur häufiger geworden.»

Der Schmerz sitzt im falschen Stuhl

Nicht, dass jedes Unternehmen vollständig mit ergonomisch ausgeklügelten Büromöbeln ausgestattet wäre. Aber im Homeoffice arbeiten die Leute am Küchentisch oder sitzen auf der Bettkante im Schlafzimmer. Die Folgen tragen sie dann zu den Spezialisten von Chiropraktik bis Orthopädie. Auch Dr. Gerd Ivanic, Dozent und Primarius des Institutes für orthopädische und kardiologische Rehabilitation an der Privatklinik Graz Ragnitz, bestätigt: «Die Fälle steigen, vor allem durch die falsche Haltung im Umgang mit Tablets, Desktop-Computern und Handys.»

Die Statistiken liefern die Zahlen dazu. Die «Frankfurter Allgemeine» zitierte die Berechnungen der Analyse-Plattform «App Annie», wonach die Menschen 2020 weltweit 3,7 Stunden täglich am Smartphone verbrachten. Laut Postbank-Jugend-Digitalstudien sind 2022 die deutschen Unter-40-Jährigen durchschnittlich 86,2 Stunden in der Woche online, 2021 waren es mit 85,1 Stunden nur knapp weniger. Ab 40 sinkt die Lust an der digitalen Beschäftigung: 2022 waren es 55,4 Stunden, ein Jahr zuvor 55,6 Stunden. Das beliebteste Gerät, mit dem man online ist – und zwar altersunabhängig – ist mit 84 Prozent das Smartphone.

Nackenschmerzen: Der Kopf wiegt beim Handystarren schwer

Büroarbeit und Computer zwingen zum Sitzen, Smartphones zum Blick nach unten. «Am häufigsten sind Halswirbelsäulen-Beschwerden und der sogenannte Handynacken», sagt Dr. Ivanic. «Zu uns kommen aber auch Patienten mit Tinnitus, Kauschmerzen, Schwindel oder Gangunsicherheiten.» Die Verspannungen können im Körper ausstrahlen. «Eine Patientin aus dem Vorstand eines großen Unternehmens kam mit Kopfschmerzen und Übelkeit zu uns. Wir mussten ihren gesamten Tages- und Arbeitsablauf und die Büroeinrichtung ändern.»

Am New Yorker Klinikum für Wirbelsäulenchirurgie und Rehabilitation untersuchte Dr. Kenneth Hansraj, wie es zu Muskeldysbalancen kommt. Die Studie, die im Fachmagazin «Surgical Technology International» erschien, macht einem den Kopf schwer. Normalerweise wiegt er bei Erwachsenen etwa sechs Kilogramm. Je weiter er nach vorne gebeugt wird, desto mehr Gewicht wirkt auf die Halswirbelsäule. Allein bei 15 Grad Neigung erhöht sich die Last auf 13 Kilo. Smartphone-Nutzer senken den Kopf bis zu 60 Grad. Die Nackenmuskeln werden überstreckt, und es wirken Kräfte von bis zu 27 Kilo auf Nacken und Rücken.

Platzprobleme in der Schwangerschaft

«Patientinnen und Patienten wollen immer wissen, woher ihre Schmerzen kommen», sagt Chiropraktorin Anna Fiand. Ihre Antwort ist einfach: «Weil wir leben.» Und dieses Leben beginnt im Mutterleib. Wenn das Knochengerüst der schwangeren Frau nicht gut justiert ist, entstehen leicht Fehlhaltungen, die sich auf das Kind auswirken können. Es hat dann zu wenig Platz, um richtig zu liegen. Allein wenn das Kreuzbein der Mutter nach vorne fällt oder das Becken nach innen, kann es sein, dass es gegen den Kopf des Embryos drückt und ihn beiseite schiebt. Es ist, als hätte das Kind ein schiefes Genick; kommt der Druck von hinten, entspricht das dem Handynacken.

«Bei der Geburt muss der Säugling üblicherweise mit dem Kopf voran durch einen extrem engen Tunnel. Auch das ist eine schwere Belastung für die Halswirbelsäule, die dabei verschoben oder blockiert werden kann, weil die Muskulatur, die Schädel und Rumpf verbindet, noch schwach ist. Würde man nach jeder Geburt die ersten und zweiten Halswirbel der Säuglinge einrichten, könnte man den Kindern oft eine Odyssee ersparen», sagt Fiand. Wären Hebammen auch in Cranio-Sakral-Therapie geschult, könnte man die Ursache in zwei Minuten im Kreißsaal beseitigen. Bleiben jedoch der Atlas (der erste Halswirbel, der den gesamten Kopf trägt) und der Axis oder auch Epistropheus verschoben (der zweite Halswirbel und die Drehachse des Kopfes), wandert man mit dem Kind mitunter von Arzt zu Ärztin.

Gestörter Informationsfluss von Gehirn zu Extremitäten

Die Palette an Beschwerden, die auftreten können, ist groß. Ursachen für Schreikinder, oder Schwierigkeiten mit Koordination und Konzentration können bei den Halswirbeln beginnen, weil dort die Hauptrezeptoren von Bewegung und Haltung sitzen. Verschobene Wirbel drücken aufs Nervensystem. Verschobene Wirbel behindern den uneingeschränkten Informationsfluss des Nervensystems vom Gehirn in die Peripherie und zurück. Das Kind krabbelt, aber nicht ganz richtig: Eigentlich muss im Kreuzgang krabbeln, also rechte Hand mit linkem Bein oder linke Hand mit rechtem Bein nach vorne bewegen. Dabei findet eine Verbindung von rechter und linker Gehirn- und Körperhälfte statt.

Doch bei verschobenen Halswirbeln funktioniert der Informationsfluss vom Gehirn nicht richtig, deswegen bewegt das Kind Hand und Bein derselben Seite oder zieht ein Bein nach, was nur zwei Beispiele von vielen sind. Auch die Muskelkette, die es später zum Aufrichten braucht und die es beim Gehen stabil hält, kann sich nicht richtig entwickeln. Die Folge: Es geht, aber physiologisch nicht ganz korrekt.

Trotzdem funktioniert das System Mensch. Nur kann es sein, dass das Kind mit drei Jahren Plattfüße hat, weil sich die Fußwölbung nicht ausbilden konnte. Oft genug werden die Eltern dann beruhigt, es würde sich schon rauswachsen. Im Gegenteil, sagt Anna Fiand: «Die Wölbung dient als Stoßdämpfer. Ohne sie können wir nicht richtig abrollen, nämlich über den großen Zeh, und das fördert die Bildung von Senk- und Spreizfüßen und Hallux valgus. So führt eines zum anderen.»

Bewegung mit angezogener Handbremse

Nackenprobleme können also beginnen, bevor der Mensch laufen kann. Die Dinge hängen zusammen, bauen aufeinander auf. Manche Kinder haben Probleme mit der Feinmotorik, was sich bemerkbar macht, wenn sie in der Schule beim Schreiben zu fest aufdrücken. Sie tun sich schwer, einen koordinativ komplexes Bewegungsmuster zu turnen, zum Beispiel einen Hampelmann. Alles Anzeichen im Mikrobereich, bei denen Lehrer und Eltern aber nicht schlussfolgern: Schauen wir uns einmal die Halswirbelsäule an. Sondern schlicht: Das Kind ist eben ungeschickt. Anna Fiand sagt dazu: «Das Kind ist nicht ungeschickt, es ist nur neurologisch nicht sauber eingestellt. Es bewegt sich wie mit angezogener Handbremse.»

Ein Phänomen unserer Zeit, wie sie sagt. «Bestimmte Muskelketten sind dafür verantwortlich, dass wir uns krümmen oder aufrichten können.» Die krumme Haltung erzeugt Verspannungen. Sie zieht die Handbremse an. Die aufrechte Haltung lässt axiale Belastung zu. Kurz: Sie löst die Handbremse. Ist die Bewegungskette zum Aufrichten zu schwach ausgebildet, bremst man sich selbst, und das oft ein Leben lang.

Anna Fiand schildert das plastisch. Erste verschobene Wirbel erzeugen noch keine Probleme im Körper. Das Gehirn kompensiert. Aber das geht nicht ewig, irgendwann verändert sich die Struktur. An den Knochen bilden sich scharfe Ränder aus, die wie Mäusezähnchen aussehen. Es herrscht eine Fehlbelastung an den Knochen. Durch die Fehlhaltung werden die Bandscheiben nach hinten hinausgequetscht. Das Geräusch, das viele Menschen kennen, wenn sie den Kopf kreisen lassen, ist so eine Abnutzung. «Es ist, als riesele Sand im Genick.»

Das Nervensystem, der Detektiv im Körper

Es ist das Nervensystem, das die Informationsverarbeitung im Gehirn steuert und ständig den Soll-Zustand im Gehirn mit dem Ist-Zustand in der Peripherie abgleicht. Es ist die oberste Kontrollinstanz im Körper. Funktioniert etwas nicht, wird es anzupassen versucht. Die Chiropraktik, erklärt Fiand, «will dafür sorgen, dass Nervensystem und Gehirnregionen adäquat zusammenarbeiten können, und zwar vom ersten bis zum letzten Atemzug.» Ein hohes Ziel. Allein seit 2018 wurden dreißig neue Hirnareale entdeckt. Der adäquaten Arbeit stehen Hürden und Blockaden aus allen Himmelsrichtungen im Weg, etwa Übersäuerung, Stress, Traumata, Entzündungen oder Störungen im Hormonhaushalt, um nur die üblichen Verdächtigen zu nennen.

«Der Körper ist doppelt belastet», sagt Anna Fiand, «durch die Fehlhaltungen, die wir mitbekommen; und durch die Fehlhaltungen, die später dazukommen.» Sei es durch Tablet und Handy oder Traumata etwa nach einem Unfall. Nach dem klassischen Schleudertrauma wird häufig etwas übersehen. Im Röntgenbild erkennt man Frakturen, aber nur im MRT den Zustand der Weichteile, und strukturelle Veränderungen zeigen sich oft erst nach Monaten. Insbesondere die Steilstellung der Halswirbelsäule wird unterschätzt, dabei hat gerade sie einen Rattenschwanz an Folgebeschwerden von Kopf- und Nackenschmerz über Konzentrationsstörungen bis zu Burn-Out oder den Verlust der Libido.

Im Teil 2 dieser Serie wird es darum gehen, was dir bei Nackenschmerzen, Schulter- und Halswirbelproblemen helfen kann.

Titelbild: Jonas Leupe via unsplash

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Andrea Fehringer
Autorin von customize mediahouse

Man muss nicht in der Bratpfanne gelegen sein, um über ein Schnitzel zu schreiben, sagte Maxim Gorki. Aber als Journalistin sollte man jemanden finden, der in der Bratpfanne gelegen ist, und darüber erzählen kann.

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