Hintergrund
Nackenschmerzen: Haben mit dem Handy zu tun, beginnen aber früher
von Andrea Fehringer
Die digitale Welt ist für den Menschen keine artgerechte Umgebung. Sie lastet auf unserem gleichnamigen Halswirbel wie einst die Erdkugel auf Atlas. Unser Alltag zwingt uns in eine gekrümmte Körperhaltung und verursacht Nackenprobleme. Hier erfährst du, wie du sie wieder loswerden kannst.
Hast du Nackenschmerzen? Hast du deshalb diese Story angeklickt? Womöglich liest du den Artikel auf deinem Handy. Du hältst es vor deiner Brust. Du schaust darauf herunter. Dann Vorsicht. Denn genau damit bist du dabei, dir noch mehr Nackenschmerzen einzuhandeln.
Der krumme Rücken samt dem gesenkten Kopf ist nicht deine natürliche Haltung. Du hast sie nur zu deiner Standardpose gemacht in den rund 55 bis 85 Stunden pro Woche, die du laut Postbank-Jugend-Digitalstudie online bist, 84 Prozent dieser Zeit übrigens am Handy. Die 30 Stunden Unterschied sind mit dem Alter erklärbar. Über-Vierzig-Jährige geben sich mit 55 Stunden zufrieden, die Jüngeren leben digitaler. Was nicht heißt, dass ihnen allein deshalb schon der Schmerz mehr im Nacken sitzen muss. Er wächst mit dem Älterwerden, und das aus drei Gründen. Nackenprobleme sind Mitbringsel aus dem Mutterleib und damit ohnehin meistens älter als wir selbst; wir vergrößern sie im Lauf unseres digitalen Lebens permanent; und sie verschlechtern sich schleichend.
Wir sind wieder in der Chiropraktik Wien, die du vielleicht schon aus Teil 1 (siehe Link oben) unserer Serie kennst. Anna Fiand, Master of Sience Chiropraktik und Physiotherapeutin, leitet sie gemeinsam mit Chiropraktiker und Physiotherapeut Wolfgang Placht und erinnert kurz daran: Wir können nur zum Teil selbst etwas für unsere Nackenschmerzen. «Fehlhaltungen in der Schwangerschaft wirken sich oft auf das Kind aus«, erklärt sie. Es könnte sein, dass Kreuzbein oder Becken der Mutter den Kopf des Babys verschieben, oder dass es rein aus Platzgründen nicht richtig liegt. Die Kräfte, die bei der Geburt wirken, setzen vor allem den beiden obersten Halswirbeln, Atlas und Axis, zu, die sich dabei leicht verschieben können. «Am besten sollte man diese Wirbel noch im Kreißsaal einrichten», rät Anna Fiand, «das wäre die erste Therapie, die viele weitere ersparen würde.»
Verschobene Wirbel drücken aufs Nervensystem, das die Informationsverarbeitung im Gehirn steuert. Es sorgt für den Abgleich zwischen dem, wie alles im Körper sein soll, und dem, wie es tatsächlich ist. Klaffen Ist-Zustand und Soll-Zustand auseinander, arbeitet das Gehirn an einer Anpassung. Das System Mensch ist dabei so angelegt, dass es Diskrepanzen lange Zeit ausgleichen, also wegstecken kann. «Das Gehirn kompensiert unsere Sünden.» Allerdings kommen immer wieder neue dazu, wie eben gerade jetzt, falls du diese Zeilen auf deinem Handy liest. Je artgerechter wir unser System nutzen, desto weniger Kompensation brauchen wir. «85 Stunden an einem digitalen Gerät sind definitiv nicht artgerecht.»
Die natürlichste Bewegung des Menschen ist das Gehen und Wandern. Auf dem Asphalt 42 Kilometer zu rennen, ist für Fiand, selbst eine Läuferin, nicht besser, als sich auf dem Rennrad einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule zu holen. «Jede Sportart hat ihre Belastung», sagt sie, es käme nur darauf an, sie nicht zu übertreiben und vor allem, die richtige Bewegung für sich zu finden. Mit «richtig» meint Anna Fiand die Bewegung, die am ehesten mit dem eigenen System kompatibel ist. «Wir sind nach demselben Bauplan gebaut, und doch hat jeder eine andere Adaption an die Grundidee Mensch, eine andere Genetik, andere Schwachstellen.»
Es ist, als könnten wir es unserem Körper nicht recht machen. Bewegung macht anfällig für Abnutzung, Verschleiß und Verletzung. Keine Bewegung macht anfällig für Lethargie und sorgt damit für Degeneration. Sowohl das Zuviel wie das Zuwenig kann Fehlhaltung und Fehlbelastung erzeugen, was der Körper in seinem Versuch der Anpassung mit Schonstellungen ausgleicht. Den Mittelweg zu finden, ist eine Frage der Haltung.
«Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare», sagte der Dichter Christian Morgenstern. Die äußere Haltung spiegelt die innere wider. Wer von psychischen Problemen niedergedrückt wird, bewegt sich in entsprechender Haltung: gekrümmt. Damit ist er oder sie den Widrigkeiten des Lebens aber noch weniger gewachsen. Fiand erklärt das anhand eines Lineals aus Plastik. Hält man es senkrecht und kerzengerade, kann man noch so stark von oben draufdrücken, es wird diese axiale Belastung aushalten. Ist das Lineal auch nur ein bisschen gebogen, krümmt es sich unter dem Druck immer mehr, bis es bricht.
Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts in Deutschland leiden 55 Prozent der Frauen und 36 Prozent der Männer an Nackenschmerzen, was mit anatomischen Unterschieden, vor allem der geringeren Muskelkraft, begründet wird. Chiropraktorin Anna Fiand präzisiert: «Das A und O des Problems ist die Haltung. Afrikanerinnen, die bis zu 50 Kilo schwere Lasten auf dem Kopf tragen, kennen keine Nackenschmerzen. Sie haben keinerlei knöchernen Veränderungen, das konnte man in Untersuchungen an den Röntgenbildern sehen, und sie haben so starke Nackenmuskeln, dass sie weder verspannt noch verkrampft sind. Der Grund dafür ist die axiale Belastung durch die aufrechte Haltung.»
Unser Lebensstil dagegen ist krumm. Wir sitzen in der Schule und bei der Arbeit in krummer Körperhaltung auf oft nicht körpergerechten Stühlen und statt das in der Freizeit auszugleichen, lümmeln wir in ebenso krummer Position auf nicht körperechten Sofas. Allerdings kann man auf einem ergonomisch ausgeklügelten 5000-Euro-Stuhl genauso falsch sitzen. Um Haltung müssen wir uns immer selbst kümmern, das nimmt uns kein Hilfsmittel ab.
Schwierig genug, weil uns die Kunst, körpergerecht und materialschonend zu sitzen, niemand beibringt. Die krumme Haltung ist Dauerzustand, weil niemand den perfekten Alltag hat. Büromenschen mit ihrem Blick nach unten sind ideale Kandidaten für Nackenschmerzen. Maler belasten ihren Nacken durch den professionellen Blick nach oben. Bauarbeiter, deren Job kaum Nackenschmerzen verursacht, krümmen sich in der Freizeit am Handy. Anna Fiands Tipp zum Gegensteuern: «Immer wieder Haltung annehmen.»
«Jedes Aufrichten vor dem Computer ist Training», sagt Fiand und rät, sich Post-its an den Bildschirm zu kleben, die einem alle fünf, zehn Minuten ins Auge fallen. Natürlich könnte man sich Erinnerungen am Handy einstellen, aber dazu müsste man noch öfter unten schauen.
Übungen, um den Nacken zu stärken gibt es viele. Wie beim Sport kommt es darauf an, die richtige für sich zu finden. Das einzige Kriterium dabei: Tut mir diese Übung gut oder nicht? Interessant findet die Chitopraktorin, dass die meisten Menschen intuitiv das Richtige tun, etwa sich morgens im Bett vor dem Aufstehen zu strecken und zu räkeln. «Damit bringt man sich schon einmal gut ins Lot.»
Es gibt viele Spezialisten, die sich um Nackenprobleme kümmern können. Orthopäden, Physiotherapeutinnen, Osteopathen, Gesundheitstrainerinnen, Heilpraktiker und natürlich Chiropraktorinnen wir Anna Fiand. Plagen dich die Schmerzen schon lange und stark, ist es kein Fehler, ihnen deinen Nacken ans Herz rsp. in die Hände zu legen. Wenn du dir lieber einmal unter den folgenden Übungen die für dich passenden aussuchen willst, eine kleine Beruhigung vorab: Du kannst nichts falsch machen, außer zu übertreiben, und du kannst nichts verschlimmern, außer weiterzumachen, wenn dich dein Körper schon bittet, aufzuhören. Am besten lässt du ihn entscheiden.
Kollege Michael Restin hat für seinen verspannten Nacken kürzlich einen so genannten Nackenstrecker ausprobiert:
Du kannst aber auch ganz ohne Gadget etwas für deine verspannte Nackenmuskulatur tun:
Du liegst mit angewinkelten Beinen auf dem Rücken, der Kopf liegt auf einem festen Kissen oder einem kleinen Ball. Ziehe anfangs deinen Hals möglichst in die Länge. Stell dir deine Nase als Stift vor und zeichne damit in zarten Kreisen eine Acht an die Decke. Dieser Kopfachter mobilisiert die Halswirbelsäule.
Du stehst oder sitzt, die Arme hängen locker herunter. Kreise abwechselnd mit den Schultern, die Bewegung wird langsam größer, die Konzentration liegt dabei auf der Richtung nach hinten und unten. Das stärkt die Muskulatur von Schulter und Nacken, hilft der Durchblutung und löst Spannung.
Schulter hochziehen und senken, spannt und entspannt die Schulter-Nacken-Muskulatur und entlastet die Halswirbelsäule. Du stehst oder sitzt mit hängenden Armen. Hebe beide Schultern gleichzeitig zu den Ohren und bringe sie wieder nach unten. Steigere die Bewegungen langsam. Atme ein beim Hochziehen und aus beim Senken.
Wenn du dir die Kapuze eines Sweatshirts vorstellst, das an deinem Nacken und Rücken herunterhängt, zeichnet das die Lage des Kapuzen- oder Trapezmuskels nach. Er ist der arme Teufel, der unseren Sünden am meisten ausgesetzt und daher vorwiegend für unsere Nackenschmerzen verantwortlich ist. Um ihn zur Abwechslung nicht nur zu fordern, sondern ihm zu helfen, stelle oder setze dich aufrecht. Ziehe den Arm samt der Schulter, die du dehnen willst, nach unten. Neige den Kopf auf die andere Seite und beuge ihn leicht nach vorne, bis du die Dehnung im Schulter-Nacken-Bereich spürst. Willst du mehr, lege die freie Hand auf den Kopf und hilf ihm, den Zug sanft zu erhöhen.
Schiebe das Kinn waagerecht nach vorne und wieder zurück. Richte die Halswirbelsäule dann bewusst ganz auf und schiebe sie dann nach hinten, wie um ein Doppelkinn zu machen. Der Kopf bleibt dabei waagrecht, der Blick nach vorne gerichtet.
Man muss nicht in der Bratpfanne gelegen sein, um über ein Schnitzel zu schreiben, sagte Maxim Gorki. Aber als Journalistin sollte man jemanden finden, der in der Bratpfanne gelegen ist, und darüber erzählen kann.
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