Mach ich jetzt sofort: Das Problem mit der Präkrastination
Präkrastination heißt, Dinge immer sofort erledigen zu wollen. Leider sind das oft unwichtige Aufgaben – und du verlernst, ganz im Moment zu leben. Doch es gibt Abhilfe.
Vielleicht kennst du das aus leidvoller eigener Erfahrung: Abschlussarbeiten schreiben, Wohnung putzen, zur Zahnkontrolle gehen – alles Dinge, die sich gut und gerne prokrastinieren, also: aufschieben lassen. Aber wusstest du, dass es auch das Gegenteil von Aufschieberitis gibt? Dazu habe ich Christine Hoffmann befragt, Arbeitspsychologin und Coach in Wien.
Frau Hoffmann, warum ist das Gegenteil von Aufschieberitis, also die Präkrastination, kaum bekannt?
Christine Hoffmann: Präkrastination hat in unserer Leistungsgesellschaft einen besseren Ruf: Es wird als erwünscht angesehen, Aufgaben schnell zu erledigen. Menschen, die präkrastinieren, gelten als fleißig, man kann sich auf sie verlassen. Und man spricht eben eher über Probleme als über die guten Dinge. Prokrastinieren wird irgendwann zum Problem, schließlich fällt es einfach auf, wenn To-Dos später oder sogar nie gemacht werden.
Wie sieht es aus, wenn jemand präkrastiniert?
Wer präkrastiniert, hat den Drang, alles sofort zu erledigen. Gleichzeitig geht das aber nicht, «alles» zu erledigen. Somit gehen Präkrastinieren und Prokrastinieren immer Hand in Hand. Ein Beispiel: Du sitzt mit deiner Partnerin oder deinem Partner auf dem Sofa – und bei jedem «Pling» schaust du auf dein Handy. So liest du zwar sofort alle neuen E-Mails, schiebst aber in diesem Moment deine Beziehungsarbeit und Beziehungsfreude auf. Genauso gut kann es deine persönliche Erholung sein oder dein Erleben mit deinen Kindern. Dadurch, dass wir in jedem Moment viele Verhaltensmöglichkeiten haben, müssen wir uns ständig (unbewusst) entscheiden, was wir als Nächstes tun und was wir nicht tun. Dadurch präkrastinieren und prokrastinieren wir ständig. Idealerweise entscheiden sich Menschen, die für sie wichtigen Dinge zu tun und schieben Unwichtiges auf.
Manche schaffen das – aber die anderen ziehen die falschen Aufgaben vor?
Wir Menschen haben insbesondere das Bedürfnis, Dinge rasch zu erledigen, die sogenannte «Quick Wins» versprechen. Zum Beispiel E-Mails beantworten, Likes im Social Web anzuschauen, Kommentare zu hinterlassen. Es gibt wenige Menschen, die ihre Gesundheit präkrastinieren oder täglich an ihrer Lebensvision arbeiten. Und nur die wenigsten werden sich im Job zuerst daransetzen, den anstrengenden Bericht zu schreiben – so etwas schiebt man lieber auf. Das heißt: Viele Menschen präkrastinieren Dinge, die leicht zu erledigen sind, aber oft nicht besonders wichtig. Und dieses Verhalten wird durch unsere Smartphone-Gesellschaft extrem begünstigt. Es ist ja auch viel einfacher, zum Kind zu sagen: «Ich spiele gleich mit dir, ich muss jetzt noch diese eine berufliche E-Mail beantworten» – Quick Win inklusive –, als intensiv mit dem Gegenüber in Kontakt zu gehen. Unser Gehirn begünstigt diese Quick Wins auch: Weil ein rascher Erfolg garantiert ist, schüttet es Dopamin aus, also den Glücks-Botenstoff.
Das ist doch etwas Gutes: Jeder will glücklich sein?!
Ja, schon, doch wer immer die unwichtigen Dinge vorzieht, wird laufend herausgerissen aus Dingen, die nach mehr Tiefe verlangen. Die Forschung ist sich da auch einig: Je mehr Menschen Single-Tasking machen – sich auf eine Sache konzentrieren –, desto glücklicher sind sie. Doch was machen wir? Multitasking. Wir sind mit dem Kind auf dem Spielplatz UND wir telefonieren. Wir schauen eine Serie an UND wir checken nebenbei unseren Insta-Account. Kognitiv können sich Menschen eigentlich nicht auf zwei Dinge konzentrieren, sondern springen ständig mit dem Fokus hin und her. So trainiert man sich ein Aufmerksamkeitsdefizit an. Dann schweifen in Gesprächen unsere Gedanken ständig ab, das macht unser Gehirn automatisch. Oder: Beim Sex würde man sich gern fallen lassen und ganz ins Spüren kommen – stattdessen denkt man an die Einkaufsliste. In Momenten, wo wir ganz im Hier und Jetzt sein sollten, können wir das nicht mehr.
Kennt die Forschung Ursachen dafür, welche Menschen besonders zum Präkrastinieren neigen?
Viel Forschung zum Thema gibt es noch nicht. Menschen, die vermehrt ängstlich sind, scheinen häufiger zu präkrastinieren: etwa, weil sie Angst davor haben, Dinge zu spät abzugeben oder Aufgaben gar nicht zu schaffen. Da kann Präkrastination schon krankhafte, zwanghafte Züge annehmen. Doch wie gesagt, wir alle präkrastinieren, eben weil es heutzutage möglich ist, Dinge überall zu erledigen. Hinzu kommt: Menschen haben das Bedürfnis, Mental Load zu reduzieren (also die Belastung durch vielerlei Aufgaben im Alltag jenseits des Jobs). Sie glauben: Diese vielen offenen Enden, die wir tagtäglich durch Unerledigtes erleben, ließen sich damit erledigen, indem man alles sofort erledigt ... Nach dem Motto: WENN ich alles geschafft habe, DANN kann ich mir Freizeit gönnen. Aber man schafft eben nie alles. Das ist ein Trugschluss.
Im Job hingegen klingt jemand, der präkrastiniert, erst einmal nach Traum-Mitarbeiter oder -Mitarbeiterin.
Es sind oft Menschen, die ein Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung durch andere haben. Sie sind People Pleaser, wollen es allen recht machen und können schwer «Nein» sagen. Schwierig wird es, wenn jemand im Job versucht, alles zu präkrastinieren: Das kann zu Neid durch das Team führen, denn so ein scheinbarer Über-Performer erzeugt Druck und erhöht das Level für die anderen. Doch zugleich lauern beim Präkrastinieren natürlich Gefahren: Du wartest nicht auf ein gutes Zeitfenster für ein To-Do, sondern erledigst alles sofort. Damit arbeitest du unter Zeitdruck und womöglich unter ungünstigen Bedingungen: weniger Tiefe, weniger Kreativität, höhere Fehleranfälligkeit sind die Folge.
Kann das der Gesundheit schaden?
Ja. Wer Multitasking versucht, erzeugt sich selbst Stress und trainiert sich, wie gesagt, ein Aufmerksamkeitsdefizit an. Und wenn Menschen wirklich alles sofort erledigen wollen, kann das zu Schlafstörungen führen, zu permanent schlechtem Gewissen, Depressionen, Burn-Out ... denn eines ist klar: Unsere Selbstfürsorge präkrastinieren wir in der Regel nicht.
Welche Maßnahmen empfehlen Sie gegen die alltägliche Präkrastination?
Menschen, die sehr selbstreflektiert sind, nehmen irgendwann den Druck wahr oder merken im Nachhinein: «Ich hätte mir den Stress gar nicht machen müssen.» Mein Tipp an jeden von uns wäre: Gehe in die Selbstreflexion. Frage dich: Welche Aufgaben sind wirklich wichtig? Was musst du sofort machen, was lässt sich bündeln, nach hinten schieben – oder sogar gar nicht erledigen? Du kannst auch To-Dos auslagern oder delegieren. Ich hatte einmal einen Executive Coach, der sich den Druck selbst auferlegt hat, jedes Wochenende den Rasen zu mähen. Er hat schließlich die Aufgabe an einen Rasenmäher-Roboter delegiert. Du kannst dich auch dafür entscheiden, nicht immer auf jeden Kommentar bei Social Media zu reagieren – oder dich ganz von Insta & Co abzumelden. Und auch wenn jede To-Do-Liste im Grunde eine neue erzeugt, weil wir eben nie fertig werden mit allem: To-Do-Listen sind hilfreich. Wir reduzieren damit Mental Load: Weil das Gehirn dann die Aufgabe nicht länger warmhalten muss, sondern vergessen kann.
Welche Maßnahmen gibt noch?
Es hilft, Strukturen festzulegen. Also sich zum Beispiel im Job feste Zeitfenster für Aufgaben einrichten. Nehmen wir das Beispiel E-Mails: Es reicht, zwei- oder dreimal am Tag zu festen Zeiten alle Nachrichten zu checken und zu beantworten. Wer diese kurzen Aufgaben bündelt, wird nicht aus anderen, wichtigeren Dingen herausgerissen. Solche Termine muss man natürlich im Team kommunizieren – und konsequent durchziehen. Das ist nicht ganz einfach, weil wir alle die «Fear of missing out» haben: Angst, etwas zu verpassen.
Jedes Smartphone verführt ja auch dazu, ständig alles zu checken …
Genau, und deshalb sollte man das Handy bewusst zuhause lassen, wenn man z.B. Joggen oder spazieren geht oder Zeit mit Familie und Freunden verbringt. Unser Hirn braucht diese Input-freie Zeit. Die Gedanken müssen frei fließen können. Die Wissenschaft hat in Studien nachweisen können: Selbst, wenn das Handy mit dem Bildschirm nach unten liegt, wird das Gehirn unbewusst aktiviert und wir glauben, es könnte ja eine Nachricht, ein Like gekommen sein. Wir spüren also den Drang, sofort nachzuschauen. Deshalb hat ein Handy auch in Konferenzen nichts zu suchen. Letztlich dreht es sich beim Präkrastinieren immer um die Frage: Was ist WIRKLICH wichtig?
Nun, das sehen der Chef und die Chefin vielleicht anders als man selbst …
Klar, Angestellte müssen vieles abklären. Aber ich rate dazu, Listen zu schreiben und im Team zu diskutieren: Welche Aufgaben machen Sinn, welche nicht? Was lässt sich auch in anderer Form erledigen oder eben gar nicht? Was kann ich aussortieren? Wir machen alle zu viel – und vieles ist nicht notwendig. Ich empfehle, Dinge einmal nicht zu machen – und dann zu schauen, was passiert. Vielleicht ist niemandem aufgefallen, dass du den Inhouse-Newsletter seit zwei Monate vergessen hast abzuschicken? Wird das Protokoll, das nach dem Meeting immer am Server abgelegt wird, ohnehin von niemandem heruntergeladen? Die Leitfrage ist diese: Was von dem, was ich tue, würde ich nicht mehr neu beginnen, wenn ich es nicht bereits täte? Am besten analysiert man im Team einmal alle Prozesse: Welche würdet ihr nicht mehr neu einführen? Was hat wirklich noch Nutzen?
Titelfoto: shutterstockIch hätte auch Lehrerin werden können, doch weil ich lieber lerne als lehre, bringe ich mir mit jedem neuem Artikel eben selbst etwas bei. Besonders gern aus den Themengebieten Gesundheit und Psychologie.