Hintergrund
Go heavy or go home? Welchen Einfluss die Belastung oder Intensität auf die Muskelmasse hat
von Claudio Viecelli
Hat dich beim Krafttraining schon einmal etwas abgelenkt, ein abschweifender Gedanke und du weisst nicht mehr, bei welcher Wiederholung du gerade bist? Praktisch wär’s, du könntest einfach deine Muskulatur fragen. Die zählt aber nicht mit.
Die Muskulatur besitzt keinen internen Zählmechanismus und zählt daher auch keine Wiederholungen. Sie entwickelte sich als Speicher- und Krafterzeugungsorgan, das uns mit unserer Umwelt interagieren lässt.
Was genau meinen wir, wenn wir von einer Wiederholung sprechen? Beim Krafttraining ist eine Wiederholung definiert als ein vollständiger Zyklus des Hebens und Senkens einer Masse über ein bestimmtes Bewegungsausmass. Physikalisch gesehen, sprechen wir hier von mechanischer Arbeit (W = Kraft x Weg). Die Anzahl der Wiederholungen ist einer der am häufigsten manipulierten Deskriptoren des Krafttrainings. Das American Colleague of Sports Medicine hat mehrere Empfehlungen fürs Krafttraining veröffentlicht, wobei 8 bis 12 Wiederholungen empfohlen werden, um das Muskelwachstum anzuregen [1,2]. Die National Conditioning Strength Association empfiehlt 6 bis 12 Wiederholungen für das Muskelwachstum und weniger als 6 Wiederholungen für die Erhöhung der Kraft [3]. Für das weitere Verständnis müssen wir uns zuerst kurz mit der Muskelphysiologie auseinandersetzen.
Die Aktivierung von Muskeln erfolgt über Signale, die in Nervenzellen im Gehirn ausgelöst werden. Durch das Rückenmark gelangen diese Signale über Motoneuronen zu den Muskelfasern.
Wir bezeichnen in der Wissenschaft das Motoneuron und die von diesem Motoneuron innervierten Muskelfasern als motorische Einheit. Die motorische Einheit ist die kleinste funktionelle Einheit des neuromuskulären Systems. Aufgrund des Zuckungsverhaltens, der Ermüdung und der Zellkörpergrösse werden die motorischen Einheiten in drei Typen unterschieden.
Rekrutieren und Feuern! Diese zwei Mechanismen regulieren die Kraftproduktion im Körper. Sie hängt einerseits von der Anzahl der rekrutierten motorischen Einheiten ab und von der Feuerungsfrequenz, mit der in den Motoneuronen die Aktionspotenziale ausgelöst werden. Je grösser die Rekrutierung ist und je schneller die Aktionspotenziale aufeinander folgen, umso höher die Muskelkraft.
Die motorischen Einheiten werden der Grösse nach rekrutiert, je mehr Muskelkraft benötigt wird [5,6]. Das bedeutet, dass zuerst motorische Einheiten des Typs S, gefolgt von Einheiten des Typs FR und anschliessend des Typs FF additiv rekrutiert werden, um eine maximale willkürliche Spitzenkraft zu erzeugen (siehe Grafik).
Während des Krafttrainings ermüden wir. Die Ermüdung der Muskulatur ist ein komplexes physiologisches Problem. Mit zunehmender Ermüdung werden zusätzliche motorische Einheiten rekrutiert, um das externe Drehmoment aufrechtzuerhalten. Physikalisch gesehen ist das Drehmoment definiert als die Kraft, die unter einem Hebelarm auf einen Drehpunkt wirkt. Bei einer Bizepsübung mit einer Hantel stellt also die Hantel das externe Drehmoment dar. Die Muskulatur erzeugt ihrerseits ein internes, muskuläres Drehmoment, um dem externen Drehmoment entgegenzuwirken. Dabei nimmt das interne, muskuläre Drehmoment, aufgrund der Ermüdung von Wiederholung zu Wiederholung ab.
Sind alle motorischen Einheiten rekrutiert worden, kannst du die Hanteln noch so lange bewegen, solange das interne, muskuläre Drehmoment grösser ist als das externe. Daraus folgt, dass du nicht nur mit einer hohen Trainingslast alle motorischen Einheiten rekrutieren kannst. Du erreichst eine komplette Rekrutierung auch über geringe Trainingslasten, unter der Voraussetzung, dass du bis zum Muskelversagen trainierst.
Der Kraftbeitrag und die Ermüdungsresistenz bei den motorischen Einheiten sind unterschiedlich. Die grösste Kraftproduktion besitzen motorische Einheiten des FF-Typs. Sie ermüden jedoch auch sehr schnell (der Kraftabfall beträgt ca. 80 bis 90 % nach 1 bis 2 min) (siehe Grafik). Sind alle motorischen Einheiten rekrutiert, hängt das intern muskulär erzeugbare Drehmoment von der Erschöpfung der motorischen Einheiten ab. Diese Erschöpfung tritt bei motorischen Einheiten des Typs FF bereits nach etwa zwei Minuten ein und führt dazu, dass es unweigerlich zum Übungsabbruch kommt, da das interne, muskuläre Drehmoment kleiner als das externe Drehmoment ist.
Anhand zweier Studien wird ersichtlich, welche Bedeutung der Faktor Wiederholungen für das Krafttraining hat. Einmal steht der Faktor im Zusammenhang mit der Intensität und einmal mit der Spannungsdauer:
Die Forschungsgruppe rund um Kumar et al. [7] untersuchte die Beziehung zwischen dem muskulären Proteinaufbau und der Trainingsintensität mit einem Studiendesign, bei dem in zwei Testgruppen die geleistete Arbeit gleich gross war. Das Krafttraining bestand aus einer Beinstreckübung (engl. leg extension) des dominanten Beins mit 20 bis 90 % des 1-RM bei je 25 jungen (24 ± 6 Jahre) und alten (70 ± 5 Jahre) Männern mit identischem Body-Mass-Index. Damit die geleistete Arbeit vergleichbar ist, wurden die Teilnehmer in Gruppen unterteilt:
Trainiert wurde mit jeweils zwei Minuten Pause zwischen den einzelnen Sätzen. Der Proteinaufbau wurde 1, 2 und 4 Stunden nach der Belastung gemessen. Dabei stellten Kumar und Kollegen fest, dass die Intensität und der Proteinaufbau in einer Sigmoid- oder Schwanenhalsfunktion zueinander stehen (ein Modell zur Beschreibung von Wachstumsprozessen, welche aussieht wie ein S. Daher auch S-Funktion genannt). Intensitäten von mehr als 60 % 1-RM führten zu keiner weiteren signifikanten Erhöhung des Proteinaufbaus. Das bedeutet, dass eine Steigerung der Trainingsintensität den Proteinaufbau und somit das Muskelwachstum nicht weiter erhöht. Was hier auffällt, ist auch, dass die geleistete Arbeit gleich gross ist, aber die Anzahl der Repetitionen unterschiedlich ausfällt.
20 % 1-RM x 3 x 27= 16.2
90 % 1-RM x 6 x 3 = 16.2
Die Forscher rund um Burd et al. [8] gingen der Frage nach, welchen Einfluss die Spannungsdauer pro Wiederholung auf den Proteinaufbau hat. Hierzu trainierten junge Männer jeweils ein Bein mit einer Kniestreckübung (engl. leg extension) mit 30 % des 1-RMs bis zum Muskelversagen. Dazu absolvierten sie jeweils 3 Sätze mit 2 Minuten Pause dazwischen. Zudem gaben die Forscher die Zeit für eine Wiederholung vor.
Die Teilnehmer trainierten mit jeweils 6 Sekunden pro Bewegungsphase (konzentrisch und exzentrisch), sodass sie für eine Wiederholung 12 Sekunden benötigten. Mit der gleichen Anzahl an Wiederholungen trainierten die Teilnehmer nun das andere Bein, aber mit einem Bewegungstempo von 2 Sekunden pro Wiederholung. Die Anzahl der Wiederholungen betrug für beide Beine 12 ± 1, 7 ± 1 und 6 ± 1 für die Sätze 1, 2 respektive 3. Danach untersuchten die Forscher den Proteinaufbau, als Indikator für das Muskelwachstum, über die nächsten 30 Stunden.
Bei welcher Gruppe war der Proteinaufbau höher? Zur Erinnerung: Es wurde dieselbe externe mechanische Arbeit geleistet. Der einzige Unterschied war die Spannungsdauer von zirka 407 ± 23 Sekunden gegenüber 50 ± 3 Sekunden bei den unterschiedlichen Bewegungstempos. 24 bis 30 Stunden nach dem Training war der Proteinaufbau für die langsame Bedingung ungefähr 40 % höher als für die schnelle Bedingung. Offensichtlich hat die Spannungsdauer einen signifikanten Einfluss auf den Muskelanabolismus. Dies rührt daher, dass die Spannungsdauer, beziehungsweise die Maximierung der Fläche des Spannungs-Zeit-Integrals, einen direkten Einfluss auf ein Protein (JNK) in unserem Körper hat. Dieses hemmt den Proteinabbau. Wird also weniger Protein abgebaut als aufgebaut, kommt es zu einer positiven Netto-Bilanz [9,10].
Was können wir von diesen zwei Studien mitnehmen? Wie bereits ausführlich beschrieben, wird das Muskelwachstum bereits durch 60 % des 1-RM angeregt und eine Steigerung der Intensität bringt keinen zusätzlichen Effekt. Diesbezüglich sehen wir auch, dass beim verwendeten Studiendesign die mechanische Arbeit gleich war, jedoch die Anzahl der Wiederholungen variierte.
Die Spannungsdauer scheint bei gleicher externer Arbeit jedoch einen signifikanten Einfluss auf das Muskelwachstum zu haben. Über den Mechanismus der Ermüdung können wir alle motorischen Einheiten rekrutieren und diese so lang wie möglich der mechanischen und metabolischen Belastung aussetzen, bis sie komplett erschöpft sind und es zum Übungsabbruch kommt. Aufgrund der oben erwähnten physiologischen Eigenschaften ist dies bei motorischen Einheiten des FF-Typs bei ungefähr 120 Sekunden der Fall. Das Ziel müsste also eine Maximierung der Fläche des Rekrutierungs-Zeit-Integrals sein oder anders ausgedrückt: Die Zeit, bei der du mechanische Arbeit leistest bei vollständiger Rekrutierung.
Das Konzept, eine Anzahl an Wiederholungen vorzugeben, hat eigentlich dieselbe Absicht, schlägt aber in verschiedenen Szenarien fehl.
Die komplette Erschöpfung der motorischen Einheiten mit hohem Schwellenwert (FF und FR) stimuliert den Proteinaufbau und somit das Muskelwachstum sehr robust. Die Überlegung wäre dahingehend, dass du ein langsames Ausführungstempo wählst, damit die Muskulatur konstant einer hohen muskulären Spannung ausgesetzt ist. Versuche dann diese Spannung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Wähle die Last so, dass ein Übungsabbruch nach etwa 120 Sekunden erfolgt. Denn: Muskeln zählen keine Wiederholungen.
Molekular- und Muskelbiologe. Forscher an der ETH Zürich. Kraftsportler.