Die Disney-Polemik: «Kein Film ist es Wert, dafür zu sterben»
Hintergrund

Die Disney-Polemik: «Kein Film ist es Wert, dafür zu sterben»

Luca Fontana
16-8-2021

Disney-CEO Bob Chapek sagt, Marvels «Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings» sei ein Experiment. Kritikerinnen und Kritiker laufen Sturm – mit Argumentationen, die immer haarsträubender werden.

Marvels «Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings» startet am 3. September im Kino. Nur im Kino. Sechs Wochen später wird er auf Disney+ für alle Abonnentinnen und Abonnenten gratis sein. Das hat Disney-CEO Bob Chapek im Rahmen der Präsentation der Quartalszahlen bekräftigt – und sich dabei in der Wortwahl vergriffen:

«Wir denken, einen Marvel-Kinofilm nach nur 45 Tagen auf Disney+ zu veröffentlichen, könnte ein interessantes Experiment sein.»

Ein interessantes Experiment. Das hätte er besser formulieren können. Müssen. Aber plötzlich legen Kritikerinnen und Kritiker Chapek Worte in den Mund, die er so nie gesagt hat. Etwa: «Mal schauen, wieviel Geld wir verdienen, wenn der Film zunächst nur im Kino läuft, auch wenn da grad eine Pandemie grassiert mit weltweit erneut steigenden Infektions- und Todesraten.»

Entsetzen. Aufschrei. Empörung. Denn Disney, so der Vorwurf, sei Geld wichtiger als die Gesundheit der Bevölkerung. Man würde sogar mit Menschenleben experimentieren. Aber macht die Argumentation dahinter überhaupt Sinn?

Der Vorwurf: Geld wiegt mehr als ein Leben

Kein Film sei es Wert, dafür zu sterben, schreibt etwa Slashfilm-Autorin Danielle Ryan. In ihrem Artikel spricht sie von einer anmassenden Verantwortungslosigkeit. Disney, so Ryan, versuche all jene, die den Film sehen wollen, ins Kino zu lotsen. Dahin, wo es je nach Land, Ort und geltenden Gesetzen rappelvoll und voller ungeimpfter Menschen sei. Schliesslich ist «Shang-Chi» der erste Disney-Film seit Anfang 2020, der bei Release nicht gleichzeitig zu Hause gestreamt werden kann.

«Eine Petrischale der schlechten Entscheidungen», schreibt sie.

In der Kommentarspalte findet Ryan sowohl Kritik als auch Zuspruch. «Es ist bedenklich, wenn ein Unternehmen beschliesst, die Risikotoleranz der Öffentlichkeit ausschliesslich in einer Umgebung zu testen, in der ihre Gesundheit gefährdet ist», schreibt etwa Kommentatorin Ada Roberts.

Wildraspberrie entgegnet: «Dir ist aber klar, dass es kein Recht gibt, bequem von zu Hause aus Zugang zu einem Film zu haben, und dass die Leute selber entscheiden können, ob sie ins Kino gehen oder nicht, oder?» Wildraspberrie spricht von einem Date-and-Day-Release. Das bedeutet, dass ein Film zeitgleich im Kino und auf Streaming-Plattformen zu sehen ist.

Bob Chapek, CEO der Walt Disney Corporation
Bob Chapek, CEO der Walt Disney Corporation
Quelle: Disney

Kritik und Empörung über den Zeitpunkt des Kino-Releases gibt’s auch in der Kommentarspalte derselben News im Branchenmagazin Deadline. Allerdings aus anderen Gründen: Labor Day, die amerikanische Version des Tags der Arbeit.

Labor Day findet in den USA jeden ersten Montag im September statt. Dieses Jahr also am 6. September. Historisch betrachtet starten Kinofilme am Wochenende davor nie besonders gut. Das wird voraussichtlich auch auf «Shang-Chi» zutreffen.

«Der Film ist zum Scheitern verurteilt. Und genau das will Bob Chapek. Wenn der Film an den Kinokassen floppt, kann er sagen: ‘Seht ihr? Experiment gescheitert. Es braucht ein Date-and-Day-Release’», schreibt Deadline-Leser Tony.

Dass Disney bewusst einen mindestens 150 Millionen Dollar teuren Film in den Sand setzen würde, ist unwahscheinlich. Erstens, weil Disney für seine Date-and-Day-Strategie keine Rechtfertigung braucht. Zweitens, weil «Shang-Chi» bereits im Juli 2019 angekündigt worden ist und Jahre zuvor in Planung gewesen sein könnte.

Lange, bevor irgendjemand eine drohende Pandemie vorausahnen konnte.

Andererseits: Date-and-Day-Release ist genauso böse

Also: Disneys Entschluss, den Film vorerst nur im Kino zu zeigen, befeuert die Kritik. Entweder, weil Disney auf die Gesundheit der Bevölkerung pfeife. Oder, weil Disney einen perfide ausgeklügelten Plan verfolge. Einen, der darauf abzielt, Filme doch nicht nur im Kino zeigen zu müssen.

Kritikerinnen und Kritiker können sich das Lager bequem aussuchen. Schlussendlich laufen beide Argumentationen aufs selbe hinaus: Geldgier. Ausgerechnet. Denn Disneys vorherige Date-and-Day-Release-Strategie sorgt seit Monaten für den genau gleichen Vorwurf.

Und nicht nur bei Disney.

Vergangenen Dezember sorgte Warner Bros.’ Ankündigung, im Jahr 2021 sämtliche Kinofilme gleichzeitig auch auf dem hauseigenen Streamingdienst HBO Max zu veröffentlichen, für viel Stunk in der Branche. Regie-Gigant Christopher Nolan sagte gar gegenüber dem Hollywood Reporter:

«Einige der grössten Filmemacher und wichtigsten Filmstars unserer Branche gingen am Abend zu Bett, als sie noch dachten, sie würden für das beste Filmstudio der Welt arbeiten, nur um am nächsten Morgen aufzuwachen und festzustellen, dass sie plötzlich für den schlechtesten Streaming-Dienst der Welt arbeiten.»

Der Ärger der Regisseure, Schauspielerinnen und Kinobetreiber hat seitdem immer grössere Ausmasse angenommen. Während sich Schauspieler John Krasinski und Emily Blunt aktuell mit dem Filmstudio Paramount um ein Date-and-Day-Release von «A Quiet Place: Part 2» streiten, ging Schauspielerin Scarlett Johansson zum Grossangriff über und reichte Klage gegen Disney ein.

Der Vorwurf: Vertragsbruch wegen Day-and-Date-Release.

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In einer ersten Reaktion auf die Klage zeigte sich Disney unrühmlich. Zunächst, indem das Haus der Maus klarstellte, dass es Johansson bloss ums Geld ginge; ihr Vertrag sieht eine Umsatzbeteiligung an Einnahmen aus den Kinokassen vor, nicht aus Streaming-Einnahmen. Dann, indem Disney Johansson vorwarf, dass es geschmacklos sei, in Zeiten einer globalen Pandemie auf einen exklusiven Kino-Release zu pochen.

Das sind dieselben Vorwürfe, die Disney wegen «Shang-Chi» gemacht werden.

Klar ist: Disney will sich nicht vorschreiben lassen, wie seine Filme veröffentlicht werden müssen. Der Druck ist dennoch gross. Denn mittlerweile haben fast alle renommierten Filmstudios wie Warner Bros., Paramount und Universal Pictures in puncto Date-and-Day-Release zurückgerudert. Auch Disney. Spätestens ab 2022 sollen Kinofilme während 45 Tagen exklusiv im Kino zu sehen sein. Manche Filme bereits früher. So auch «Shang-Chi».

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Vorerst, zumindest.

Was Bob Chapek auch noch sagte…

Vorerst, weil die Worte Bob Chapeks aus dessen Präsentation der Quartalszahlen nicht immer mit dem vollständigen Kontext überliefert werden. Chapek sagte im Anschluss an sein unglückliches Experiment-Zitat nämlich auch:

«Um nochmals auf meine vorherige Antwort zurückzukommen: Als wir vor drei Monaten den Re-Release von ‘Shang-Chi’ planten, stellten wir uns eine viel gesündere Lage innerhalb der Pandemie vor. Wir konnten nicht wissen, wie sich die Lage zwischenzeitlich entwickeln würde.»

Der Disney-Chef spricht das Wort «Delta-Variante» zwar nicht aus, aber es ist da, zwischen den Zeilen. Warum dann «Shang-Chi» nicht trotzdem zeitgleich auf den hauseigenen Streaming-Dienst Disney+ veröffentlichen?

«Weil wir zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund von Verträgen und Vereinbarungen mit Kinobetreibern und Distributionsfirmen keine kurzfristigen Änderungen am Release-Plan mehr vornehmen dürfen.»

Auch zwischen die Zeilen gelesen: «Wir würden ja gerne ein Date-and-Day-Release machen. Uns sind aber vertraglich die Hände gebunden. Jetzt machen wir das Beste daraus.»

Dass Disney «Shang-Chi» überhaupt als Kino-exklusives Spektakel geplant hat, liegt daran, dass Franchises wie die Marvel-Filme oder «Star Wars» das Kino als grosse Bühne mit Grossereignis-Charakter brauchen. Zu gross die globale Zugkraft, die die schiere Strahlkraft der Marken auf eine Weise verstärken, wie es nur das Kino kann. Darüber habe ich anfangs Pandemie geschrieben.

Ob Disney auch zukünftig an sein neues 45-Tage-Kino-Modell festhalten wird, scheint alles andere als gesichert. Gerade nach Chapeks Aussagen. Schliesslich ist Disneys Date-and-Day-Release-Modell finanziell erfolgreich. Auch, weil Disneys Streamingdienst schneller wächst als es Investoren vorausgesagt haben.

Mittlerweile zählt Disney+ weltweit 116 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten.

Der Erfolg von Date-and-Day-Release

«Black Widow» etwa habe an dessen Startwochenende im Juli zwar «nur» 80 Millionen Dollar an den US-Kinokassen eingespielt, so die Quartalszahlen. Dank Premier Access sind noch zusätzliche 68 Millionen Dollar via Disney+ dazugekommen. Und 78 Millionen Dollar von den internationalen Kinokassen. Das macht «Black Widow» zum erfolgreichsten Kinostart seit Beginn der Pandemie. Auch «Jungle Cruise» kam gut weg: 30 Millionen Dollar generierte der Film alleine via Disney+.

Zum Vergleich: «The Suicide Squad», das sowohl im Kino als auch gratis auf HBO Max gestartet ist, hat an dessen Startwochenende gerade mal 24 Millionen Dollar eingespielt. Trotz hervorragenden Kritiken. Ein Flop.

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Dazu kommt, dass sich Filmstudios die Streaming-Dienst-Einnahmen nicht wie üblich 50:50 mit den Kinobetreibern teilen müssen, sondern nur 80:20 mit den Betreibern der Streaming-Server. Aus rein unternehmerischer Sicht scheint ein Date-and-Day-Release darum lohnenswerter.

Gerade in Anbetracht der noch nicht ausgestandenen Pandemie.

Wie böse ist Disneys Kino-Release jetzt tatsächlich?

Ist Disney nun geldgierig, weil es «Shang-Chi» vorerst nur ins Kino bringt, oder weil es zuvor an sein Date-and-Date-Release-Geschäftsmodell festgehalten hat? Die Meinungen gehen auseinander. Nur darin scheint man sich einig zu sein: Was auch immer Disney tut, Disney ist böse.

Die Walt Disney Corporation aber ist genau das: ein Unternehmen. Es analysiert den Markt, das Verhalten seiner Zuschauerschaft und entwickelt Strategien, die den Umsatz maximieren. Das machen alle Unternehmen. Oder Filmstudios. Die Zahlen scheinen dem Haus der Maus ja Recht zu geben. Gerade Familien schätzen das einmalige Zahlen von 29 Franken für ein Date-and-Day-Release-Zugriff. Das ist immer noch deutlich günstiger als ein Kinobesuch samt überteuerter Preise für Popcorn und Getränk.

Was Disney unterscheidet, ist seine zunehmend monopolistische Stellung als eines, wenn nicht gar als grösstes Medienunternehmen der Welt. Das macht Disney unbeliebt. Angreifbar. Es ruft Kritikerinnen und Kritiker auf den Plan. Zu Recht. Disney soll und darf nicht seine Macht ausnutzen. Darauf ein Auge zu haben, ist wichtig. Kritik sollte dennoch nie nur noch bloss um der Kritik Willen ausgeübt werden.

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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