Das erste Mixtape seit 30 Jahren
Hintergrund

Das erste Mixtape seit 30 Jahren

David Lee
21-6-2023

Endlich wieder mal ein Mixtape zusammenstellen und verschenken! Wie schon vor 30 Jahren als Teenager zieht es mir den Ärmel rein und ich will alles perfekt machen. Gar nicht so einfach.

Kollegin Michelle hat eine Woche lang auf digitale Musik verzichtet und sich auf den Walkman beschränkt. Für mich war das die Gelegenheit, endlich ein selbstgemachtes Mixtape zu verschenken. Mein Vorhaben scheiterte bisher immer daran, dass kaum jemand ein noch funktionierendes Kassettengerät hat.

Das Erstellen von Mixtapes sei eine subtile Kunst, behauptet Plattenladenbesitzer Rob Gordon in «High Fidelity». Zugegeben, der Typ nimmt sich selbst und seinen Musikgeschmack viel zu wichtig. Aber es stimmt, dass bei einem sorgfältig gemachten Mixtape nichts dem Zufall überlassen wird. Das bedeutet viel Arbeit, aber schöne Arbeit – ich kann es dir nur empfehlen.

Zwei Playlists

Ironischerweise hilft die Digitalisierung beim Erstellen eines Mixtapes. Ich stelle mir zwei Playlists zusammen, eine für die A-Seite und eine für die B-Seite. Dafür benutze ich Spotify, es geht aber auch mit anderen Diensten oder mit einem Audio-Player, wenn du die Musikdateien selbst gespeichert hast.

Wichtig ist, dass du die Gesamtlänge der Playlists siehst. Die muss mit der Spielzeit der Musikkassette übereinstimmen. Das letzte Stück darf nicht plötzlich abgeschnitten werden, es sollte aber auch keine minutenlange Pause geben. Achtung: Bei einer 90-Minuten-Kassette umfasst eine Seite normalerweise nicht exakt 45 Minuten, sondern ein bis zwei Minuten mehr. Wenn du es perfekt machen willst, misst du vorher die Zeit – oder du wählst als letztes Stück eines, das sich gut zum Ausblenden eignet.

Um die Musik auf die Kassette aufzunehmen, habe ich ein iPad an den Verstärker angeschlossen und darauf die Playlists abgespielt. Vom Verstärker gelangt der Sound zum ebenfalls angeschlossenen Kassettendeck. Es wäre auch möglich, das iPad mit einem Kabel direkt an den Rekorder anzuschliessen. Die Aufnahme von Musikkassetten ist ein Thema für sich – dazu kommt später noch ein separater Artikel.

Die Auswahl der Stücke

Das Wichtigste: Es zählt nicht dein Musikgeschmack, sondern derjenige der beschenkten Person. Bei Michelle musste ich nachfragen. Antwort: «Rockmusik aus den 80ern und rundherum, AC/DC, Rolling Stones. Aber auch Beatles, Dire Straits, Pink Floyd, Elvis Presley und Johnny Cash».

Gibt es Überschneidungen mit dem eigenen Geschmack, macht das die Sache einfacher und spassiger. Hier ist das zum Glück der Fall. Die ersten vier Bands gehören auch zu meinen Favoriten.

Der zweite wichtige Punkt: Die Stücke müssen zusammenpassen, aber auch Abwechslung bieten. Ganz ähnlich wie bei einem Album. In meinem Fall ist das Grundthema 80er-Rock, aber das heisst nicht, dass jedes Stück ein Rockstück aus dieser Zeit sein muss. Die Stücke sollten nur gefühlsmässig nicht allzu weit davon entfernt sein.

Normalerweise suche ich nach Stücken, die die Person vermutlich noch nicht kennt. In diesem Fall dürfen es auch bekannte Stücke sein. Denn ohne die Tapes könnte Michelle ihre Lieblingsmusik während ihrer Kassettenwoche gar nicht hören. Ich habe also keine Hemmungen, «Start me up» von den Stones reinzupacken, obwohl sie das bestimmt schon kennt. Als weniger bekanntes und neueres Stück schmuggle ich «She» in der Version von Jeff Lynne rein. Denn das erinnert mich an die Beatles, was Michelle ja als Favorit angegeben hat. Ob sie Jeff Lynne mag oder gar schon kennt, weiss ich nicht, aber genau das macht es reizvoll: Ein Mixtape ist auch ein Ratespiel.

Die Stücke sollten unterschiedlich lang sein. Das sorgt für mehr Abwechslung und macht es einfacher, sowohl die A- als auch die B-Seite auf die richtige Länge zu bringen. Zwei, drei sehr kurze Stücke sind dafür besonders nützlich.

Die Reihenfolge

Wie bei einem Konzert oder einem Abend mit DJ ist auch bei einem Mixtape die Reihenfolge wichtig. Es gibt keine Shuffle-Funktion, du kannst auch nicht mal schnell zum nächsten Stück springen. Eine Musikkassette besteht so gesehen aus nur zwei langen Stücken: Der A-Seite und der B-Seite.

Das erste Stück soll auf Anhieb begeistern. Ein Rock-Tape beginnt mit einem eingängigen Kracher, den du schon in den ersten drei Sekunden erkennst. Zudem gibt das erste Stück die Richtung des Tapes vor. Ich wähle Jump von Van Halen. Das Intro ist für mich die Definition von 80er-Jahre-Sound.

Das zweite Stück darf gegenüber dem ersten nicht abfallen. Eine solide Fortsetzung ist gefragt. «I love Rock and Roll» von Joan Jett passt.

Danach darf es etwas ruhiger zugehen. Hier folge ich der Intuition, ohne feste Regeln. Bei der Reihenfolge höre ich mir insbesondere die Übergänge an. Da lohnt es sich auch, mal drüber zu schlafen: Wenn sich etwas am nächsten Tag immer noch richtig anhört, dann passt es höchstwahrscheinlich.

Schwer verdauliche Stücke habe ich bei diesem Mixtape gemieden – aber wenn ich welche hätte, würde ich sie nicht direkt hintereinander bringen, sondern verteilen. Ich wechsle mit den Stimmungen ab – zwischendurch etwas ruhigeres, um wieder Luft zu holen. Es kann einen Verlauf geben, von schnell zu langsam, von fröhlich zu traurig, mit einem Stück, das zwischendrin liegt. Oder ich füge eine längere Pause zwischen zwei Stücken ein, zum Beispiel wenn auf ein sehr lautes ein sehr ruhiges Stück folgtkommt.

In der Mitte oder gegen Ende der Seite ist ein guter Platz für Stücke mit verborgenen Qualitäten. Solche, die man erst beim zweiten oder dritten Mal schätzen lernt.

Auf einem Album ist das letzte Stück meistens eines der besten, nicht selten sogar das beste. Du kannst auch auf einem Mixtape am Schluss nochmal ein echtes Highlight platzieren. Es ist tendenziell länger, langsamer und ruhiger als der Opener. Ich habe die einzigen melancholischen Stücke an den Schluss der A- und B-Seite gepackt.

Leider war mir zu Beginn selbst nicht bewusst, dass eine 45-Minuten-Seite in Wahrheit etwa 47 Minuten dauert. Damit es keine lange Pause am Ende gibt, kommt bei mir nach dem eigentlich letzten Stück noch ein Ausschnitt aus einem langen, monotonen Stück der Red Hot Chili Peppers. Der Vorteil ist, dass sich dieser Jam an jeder beliebigen Stelle ausblenden lässt. Dadurch wird die Playlist genau so lang, wie es Platz auf der Kassette hat.

Die Kassette

Ein Geschenk sollte auch optisch etwas hermachen. Michelle hätte sich bestimmt kreativ ausgetobt bei Hülle und Kassette. Ich stellte mich auf den bequemen Standpunkt, dass die alten Maxell-Kassetten von Haus aus gut aussehen und keiner weiteren Verschönerung bedürfen. Ich war sogar zu faul, um die Stücke auf die Hülle zu schreiben – das hat Michelle nachträglich gemacht. Auch dafür habe ich eine gute Ausrede: Das erste Hören soll eine Überraschung sein.

Bei der Gestaltung war ich faul. Die Stücke hat Michelle nachträglich auf die Hülle geschrieben.
Bei der Gestaltung war ich faul. Die Stücke hat Michelle nachträglich auf die Hülle geschrieben.
Quelle: Michelle Brändle

Immerhin habe ich eine gute Kassette genommen, nämlich eine vom Typ II. Die rauschen weniger als die normalen Typ-I-Kassetten. Leider werden sie heute nicht mehr hergestellt. Eine alte Kassette neu zu bespielen, klappt in den meisten Fällen problemlos. Wenn es nicht gut klingt, liegt es vermutlich am Rekorder.

Nach so viel Text über Mixtapes habe ich jetzt Lust, ein weiteres zu machen. Du auch?

Titelfoto: Michelle Brändle
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    von David Lee

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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