Chance statt Stress: Mit Kindern wieder Lernen lernen
Hintergrund

Chance statt Stress: Mit Kindern wieder Lernen lernen

Dank der Kinder habe ich die Chance auf eine zweite Runde Schulbildung. Beim ABC und Einmaleins konnte ich noch mühelos glänzen. Inzwischen lautet meine erste Antwort immer häufiger «Ääääh …». Das Gute daran: Wir lernen gemeinsam.

Time flies. Das ist Englisch und bedeutet so viel wie … Entschuldigung. Ich bin wieder in meine Rolle als Alleserklärer gerutscht, in der ich mich ein paar Jahre lang durchmogeln konnte. Denn mit dem Schulstart der Kinder verändern sich auch die Fragen, die sie mit nach Hause bringen.

Es beginnt alles ganz harmlos. Das ABC und Einmaleins sind eine willkommene Abwechslung nach der kleinkindlichen «Warum»-Löcherei, die vom Lachanfall bis zum mentalen Meltdown alles auslösen kann. Endlich kommt es auf eindeutige Antworten an. Und die kann ich leicht geben. Unter anderem deshalb, weil sich die Grundlagen auch noch spielerisch lernen lassen.

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4 x 6 = 24, nach dem D kommt das E – und irgendwann, zwei, drei Jahre später, dann das grosse «Ääääh …». Ein Dehnungslaut, beliebig verlängerbar, verbunden mit Furchen auf der Stirn. Inzwischen ist dieses Spiel aus dem Regal verschwunden, wir sind in den Klassen 4 und 6 angekommen. Und irgendwo dazwischen lag er, der Moment, in dem ich nicht mehr im Vorbeigehen helfen konnte.

Wie ging das doch gleich ...?

Inzwischen bleibe ich regelmässig stehen und beuge mich wie ein Fragezeichen über den Tisch, grüble, nehme mir schliesslich doch einen Stuhl und setze mich neben meine Tochter. Dann lese ich mir durch, wie weit Lara und Tom diesmal mit dem Velo fahren, wer in welchen Abständen Pause macht und mit welcher Geschwindigkeit Lara unterwegs ist – um nach 2 Stunden und 36 Minuten wie lange genau auf Tom zu warten, der um 11:04 ankommt und deshalb wie schnell gefahren sein muss?

Zusatzfrage: Wie lange hält mich das jetzt davon ab, die Wäsche aufzuhängen?

Im echten Leben würde Tom an Lara schreiben: «Bin laut Maps in 26 Minuten da!», oder einfach seinen Standort teilen, doch das hilft uns nicht weiter. Und das ist gut so, denn dabei lernt man nichts. Hier helfen nur Stift und Papier, Radiergummi und Tipp-Ex, Formeln und Fokus. Lauter Dinge, die sich nach und nach aus meinem Alltag verabschiedet haben.

Schade eigentlich. Denn sie sind nützlich, um sich Schritt für Schritt mit einer Frage auseinanderzusetzen. Am Ende erzählt ein von Hand bearbeitetes Blatt die ganze Geschichte, Spuren des Scheiterns und Umdenkens inklusive. Wo geknobelt wird, fallen Späne aus leuchtendem Gummi.

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Auf Augenhöhe lernen

Die Zeit verfliegt wirklich. Beim Anblick von Textaufgaben und auch generell. Sie hat, wie sich zeigt, nicht nur analoge Hilfsmittel, sondern grosse Teile des in der 6. Klasse gefragten Mathe-Wissens zuverlässig aus meinem Gehirn gefegt. Zumindest ist es in irgendeinem Winkel, auf den ich spontan keinen Zugriff habe, und meine Tochter schaut immer häufiger dabei zu, wie ich unter dem Gedankenschutt von drei Jahrzehnten danach grabe.

Statt sofort helfen zu können, muss ich inzwischen regelmässig um Geduld bitten. Ich weiss es nicht, ich kann es nicht, ich muss erst mal nachdenken. Sorry. Nach dem ersten Frust fühlt sich dieser Moment der Wahrheit ganz befreiend an. Die Dinge, die ich besser kann, werden von Tag zu Tag weniger. Und das ist okay. Dafür können wir auf Augenhöhe nach Lösungen suchen.

Ich reime mir eine Gleichung für Tom und Laras Fantasieproblem zusammen. Dann schaue ich meiner Tochter über die Schulter und lerne von ihr, Rechnungen wieder schriftlich zu lösen. Win-win. Gemeisterte Krisen sind ein echter Schub für die Lernmotivation – und die will ich auf jeden Fall erhalten. Auch dann, wenn ich den Lehrer geben und Probeprüfungen korrigieren soll.

Lesen und lesen lassen

Ein paar Tage später greife ich bewusst nicht zum Rotstift, sondern zum weniger vernichtend wirkenden Bleistift, und beuge mich über die Aufgabenblätter. Thema: Textverständnis. Ein Bereich, in dem ich mich eher zuhause fühle. Und ein Bereich, in dem die Leistungskurve laut PISA-Studie auch in der Schweiz ungefähr so verläuft wie der Mund dieses Emojis: 🤔. In der Tendenz also nach unten. Umso wichtiger ist es, die Freude am Lesen möglichst früh zu vermitteln.

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Ich habe selbst das Gefühl, dass es mir zunehmend schwerer fällt, mich wirklich auf einen Text einzulassen. Wort für Wort zu lesen, statt nur zu scannen und dann zum nächsten Inhalt zu springen. Das kann ich mir als gestrenger Korrektor nicht erlauben. Die Geschichte, die ich vor mir habe, handelt von einem besonderen Moment zwischen einem Vater und seinem Sohn.

In den Fragen zum Text geht es um das, was in und zwischen den Zeilen steht, wie man es interpretieren muss und umformulieren könnte. Um die Fähigkeit, die entscheidenden Worte zu erkennen und nicht in die erstbeste Falle zu tappen. Ich arbeite mich durch die Aufgaben, zweifle, korrigiere und bin froh, nicht den Rotstift genommen zu haben.

Wichtige Textpassagen hat sich meine Tochter mit Leuchtstift markiert.
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Quelle: Michael Restin

Es ist ein guter Moment, ich kann mich darauf einlassen und ungestört meine Anmerkungen machen. Ein bisschen Fokus, der sich im Familienalltag wie Luxus anfühlt, weil halt häufig mal was dazwischen kommt. Weil das Teams-Meeting läuft, während der Auflauf im Ofen ist und auf anderen Kanälen die Termine der Kinder koordiniert werden müssen. Was dann passiert, wird mir eines Mittags wieder vor Augen geführt.

Liest du noch oder scannst du schon?

Es meldet sich die Klapp-App, über die die Schule mit den Eltern kommuniziert. Der Schwimmunterricht fällt kurzfristig aus, die Kinder werden früher nach Hause geschickt. Falls das nicht möglich sei, solle man doch Bescheid geben. Kurz herrscht Ruhe, dann brummt das Handy im Minutentakt. Kind A darf gerne nach Hause gehen. Bei den Kindern B bis L ist das ebenfalls kein Problem, wie alle per Antwort an alle erfahren.

Finde den Fehler.

Die Mailbox, WhatsApp, Signal, Klapp – wir haben alle Kanäle voll. Darunter leidet nicht nur das Leseverständnis. Das ist die Welt, in der wir leben und in der die Kinder zurechtkommen müssen. Dafür brauchen sie die Grundlagen, und für die braucht es Zeit und Geduld. Papier ist geduldig. Papi nicht immer. Aber ich arbeite daran – und lerne dabei selbst wieder zu lernen.

Titelbild: Michael Restin

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Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.


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