Bildstabilisierung-Specs richtig interpretieren
Hintergrund

Bildstabilisierung-Specs richtig interpretieren

David Lee
11-12-2023

«Kompensiert bis zu fünf Stufen» – solche Angaben stehen bei Kameras und Objektiven mit Bildstabilisator. Was bedeutet dieser Wert und wie realistisch ist er?

Optische Bildstabilisatoren können sowohl in Objektiven als auch in Kameras verbaut sein. Im Idealfall hast du beides, und die beiden Stabilisatoren arbeiten zusammen. Die Kamera-Stabilisierung gleicht dann die Bewegungen aus, die von der Objektiv-Stabilisierung nicht erfasst werden.

Die Hersteller beziffern die Leistungsfähigkeit ihrer Stabilisatoren mit Angaben wie «kompensiert bis zu fünf Stufen». Ich will wissen, wie diese Angaben genau zustande kommen – und wie praxisnah sie sind.

Die Belichtungsstufen

Mit Stufen sind Belichtungsstufen gemeint. Eine Verdoppelung der Belichtungszeit bedeutet eine Stufe mehr. Zum Beispiel 1/30 Sekunde statt 1/60 Sekunde. Fünf Stufen entsprechen fünfmal einer Verdoppelung. Das wäre ungefähr 1/2 Sekunde statt 1/60 Sekunde.

Wenn du ohne Bildstabilisator höchstens 1/60 Sekunde belichten darfst, um ein scharfes Bild zu bekommen, dann ist es mit Bildstabilisator 1/2 Sekunde.

Die besten Stabilisierungssysteme – eine Kombination aus Objektiv- und Kamerastabilisierung – erreichen bis zu acht Stufen. Das wären in unserem Beispiel vier Sekunden.

Eine gewaltige Verbesserung. Aber entspricht das auch der Realität? Mein Gefühl aus zahlreichen Tests sagt mir: eher nein. Aber gehe ich dem mal genauer nach.

Das CIPA-Verfahren

Wie kommen diese Angaben überhaupt zustande? Es gibt ein standardisiertes Verfahren, um die Leistung von Stabilisatoren zu messen. Definiert hat es die CIPA (Camera & Imaging Products Association), zu Deutsch der Interessenverband der japanischen Fotoindustrie. Im Verfahren bewegt ein «Vibrationsapparat» Kamera und Objektiv, während ein Testbild fotografiert wird.

Schematischer Aufbau des Testsystems.
Schematischer Aufbau des Testsystems.
Quelle: CIPA

Der Apparat führt genau vordefinierte Bewegungen mit einer Frequenz von 500 Hz aus, die über einen Zeitraum von 32 Sekunden immer gleich sind. Dies ist nötig, damit die Ergebnisse verschiedener Kameras und Objektive miteinander vergleichbar sind. Diese regelmässigen maschinellen Bewegungen unterscheiden sich jedoch von echten Handbewegungen. Diese können sehr abrupt und unvorsehbar sein. Und vor allem sind sie in jeder Situation wieder anders.

Hier siehst du die Bewegungen einer CIPA-zertifizierten Vibrationsmaschine.

Vergleich mit der Praxis

So weit die Theorie. Wie sie sich von der Praxis unterscheidet, zeige ich anhand der Canon EOS R7 mit dem Objektiv RF-S 18-150mm. Kamera und Objektiv zusammen ergeben laut Canon eine Stabilisierung von bis zu sieben Belichtungsstufen nach dem CIPA-Verfahren. Diese Angabe gilt für die Brennweite 150 Millimeter.

Zunächst muss ich wissen, wie lange ich ohne Stabilisierung belichten kann. Die Faustregel besagt, dass ich mindestens die Brennweite als Sekundenbruchteil wählen muss. Ich mache also drei Fotos mit 1/160 Sekunde. Davon verwackelt eines, die anderen zwei werden scharf. Bei diesen Aufnahmen bin ich gestanden. Sitzend und mit aufgestützten Ellenbogen werden alle drei Fotos scharf. Bei 1/80 alle drei leicht unscharf. Die Faustregel kommt also in etwa hin, aber du merkst schon: Es kommt auf deine Körperposition beim Fotografieren an.

Nun mache ich mit jeder Verschlusszeit drei Aufnahmen mit eingeschalteter Stabilisierung. Das ganze einmal stehend und einmal sitzend mit aufgestützten Ellbogen. Bei 1/10 Sekunde werden alle Bilder scharf. Bei 1/5 Sekunde, also 0,2 Sekunden, verwackelt eines im Stehen. Bei einer weiteren Verdoppelung auf 0,4 Sekunden werden im Stehen alle unscharf, im Sitzen zwei von drei. Bei 0,8 Sekunden wird je eines scharf.

Mit diesen 0,8 Sekunden erreicht die Bildstabilisierung tatsächlich die versprochenen sieben Stufen. Aber es ist eben auch möglich, dass du schon bei kürzeren Verschlusszeiten die Aufnahme verwackelst.

Jetzt wird auch klar, was mit «bis zu sieben Stufen» gemeint ist. Unter Laborbedingungen schafft das System sieben Stufen, nicht weniger. Aber in der Realität wird das nur selten der Fall sein. Wie mein Beispiel zeigt, ist es durchaus möglich, aber keineswegs garantiert.

Weitwinkel und Super-Tele

Jede Kamera und jedes Objektiv ist anders. Es kann sein, dass ich bei bestimmten Modellen weniger nahe an den CIPA-Wert herankomme. Insbesondere, wenn der Stabilisator Aufnahmen von mehreren Sekunden ausgleichen soll, wie das von Weitwinkelobjektiven in Kombination mit Kamera-Stabilisierung behauptet wird. Das Canon RF 15-35mm soll in Kombination mit einem Kamera-Stabilisator sieben Stufen kompensieren. Bei einem Ausgangswert von 1/15 Sekunden wären das acht Sekunden. Das ist realitätsfremd. Während dieser acht Sekunden bleibt das Sucherbild schwarz und ich habe keine Kontrolle darüber, ob ich den Ausschnitt ungefähr konstant halte. Die Bilder verwackeln in der Folge komplett, auch beim besten Stabilisator.

Noch ein Blick auf das andere Ende des Brennweitensprektrums, am Beispiel des Super-Tele RF 800mm F11. Hier kompensiert der Bildstabilisator laut CIPA-Test vier Stufen, der Kamera-Stabilisator hat keinen Einfluss. In der Praxis sind die Ergebnisse sowohl mit als auch ohne Bildstabilisator sehr inkonsistent. Das liegt daran, dass im Supertele-Bereich winzige Handbewegungen grosse Auswirkungen haben. Je nachdem, wie sich meine Hand gerade bewegt, kann eine Aufnahme mit 1/400 Sekunde ohne Stabilisator scharf und mit Stabilisator unscharf sein. Ich habe aber auch schon Fotos mit 1/80 Sekunde geschossen, die scharf sind. Das geht dann nur mit Stabilisator.

Seltener Glücksfall: Die Hand und der Vogel waren so ruhig, dass die Aufnahme mit 1/80 Sekunde scharf wurde.
Seltener Glücksfall: Die Hand und der Vogel waren so ruhig, dass die Aufnahme mit 1/80 Sekunde scharf wurde.
Quelle: David Lee

Wegen der grossen Unregelmässigkeit kannst du dich nicht darauf verlassen, dass der Bildstabilisator tatsächlich vier Stufen kompensiert. Es kann zwischendurch mal klappen, ist aber Glückssache. Für mich spielt dies im Alltag sowieso keine Rolle. Ich benutze das 800mm-Objektiv, um kleine Vögel zu fotografieren. Die sind so quirlig, dass ich sehr kurz belichten muss, um mehrheitlich scharfe Bilder zu erhalten. Bei diesen Verschlusszeiten im Bereich von 1/1000 Sekunde oder noch weniger wird das Bild auch ohne Stabilisator scharf.

Das heisst nicht, dass der Stabilisator für die Vogelfotografie nutzlos wäre. Ganz im Gegenteil. Mit ausgeschaltetem Stabilisator zittert das Sucherbild so stark, dass ich das Motiv kaum im Bild halten und fokussieren kann. Der genaue CIPA-Wert ist in diesem Zusammenhang aber unwichtig.

Fazit: Gut als Vergleichswert, Vorbehalte in der Praxis

Die CIPA-Angaben basieren auf einem standardisierten Laborverfahren. Die Zahl, die daraus resultiert, hat zum Ziel, verschiedene Bildstabilisatoren miteinander zu vergleichen. Du kannst aber nicht davon ausgehen, dass du diesen Wert in der Praxis auch erreichst. Besonders dann nicht, wenn du dich nirgendwo anlehnen oder abstützen kannst.

Besonders bei Objektiven mit sehr kurzen und sehr langen Brennweiten lässt sich der CIPA-Wert nicht eins zu eins auf die Praxis übertragen. Bei Weitwinkelobjektiven führen Werte von mehr als fünf Stufen zu Verschlusszeiten mit mehreren Sekunden, was freihändig kaum geht. Im Supertelebereich wirkt sich die Unregelmässigkeit der Handbewegungen sehr stark aus. Bei diesen Objektiven ist ein Stabilisator aber nur schon essenziell, um ein ruhiges Sucherbild zu erhalten. Der genaue CIPA-Wert ist in diesem Zusammenhang unwesentlich.

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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