«Alan Wake 2» ist ein Psychothriller höchster Güte
Alan Wake ist zurück und mit ihm die Dunkelheit. Der zweite Teil flirtet mehr mit Survival-Horror als Action und ist damit eines der atmosphärischsten Spiele des Jahres.
13 Jahre sind seit dem ersten Teil vergangen. Genauso lange steckt Alan Wake im «Dunklen Ort» fest. Es ist eine Art Manifestation von dem, was der Horror-Schriftsteller in seinen Büchern geschrieben hat. Sein Kampf endete mit einem Teilsieg und der Gefangenschaft in der ewigen Dunkelheit. Nun erhält er Schützenhilfe von der FBI-Agentin Saga Anderson.
Erneut häufen sich die Morde im verschlafenen Fischerdörfchen Bright Falls. Zusammen mit ihrem Partner Alex Casey startet Saga ihre Ermittlungen. Moment, Alex Casey, das ist doch der fiktive Detektiv aus Alan Wakes Romanen? Richtig. Und der hat offensichtliche Parallelen zu «Max Payne», einem weiteren Spiel des finnischen Studios Remedy. Das Gesicht von Max Payne im ersten Teil ist wiederum das von Sam Lake, der eigentlich Sami Antero Järvi heisst, und Creative Director und Autor des Studios ist. In «Alan Wake 2» kehrt Lake wieder ins Spiel zurück und leiht sein Aussehen Alex Casey, der gesprochen wird von James McCaffrey. McCaffrey hat auch Max Payne vertont. Wenn du denkst, das ist verworren, dann weisst du, was dich in «Alan Wake 2» erwartet. So dauert es nicht lange und Saga wird in einen Sumpf aus Verschwörungen, einem mörderischen Kult und die wieder erwachte Dunkelheit gezogen.
Das erste «Alan Wake» ist ein spannender Grusel-Thriller, der unter repetitivem Gameplay leidet. Ich habe das Spiel dennoch geliebt – wie eigentlich jedes Spiel von Remedy. Angefangen mit «Max Payne» bis zu «Control» begeistern sie nicht nur mit geballter Ladung Action, sondern dank Sam Lake auch mit einzigartigen Geschichten. Die bisher beste hat er für «Alan Wake 2» geschrieben.
Zwei Spielfiguren, eine Geschichte
In «Alan Wake 2» spiele ich sowohl Saga als auch Alan. Das Spiel beginnt in der Rolle der FBI-Agentin und der Aufklärung eines Ritualmordes. In einer verwunschenen Waldlichtung suche ich Hinweise und führe sie in meinem Gedankenpalast zusammen. Dieser wird im Spiel als eigenständiger Raum dargestellt, in den ich per Tastendruck wechseln kann. In dieser lauschigen Waldhütte kann ich Hinweise klassisch mit einem roten Faden verknüpfen, bis sich ein Bild ergibt. Der Prozess dient hauptsächlich der eigenen Orientierung, denn ich kann die Hinweise nur auf eine Art anordnen.
Im Gedankenpalast kann ich ausserdem Personen studieren. Mit diesem «Profiling» nutzt Saga ihre Intuition, um beispielsweise herauszufinden, dass die Zeugen des Ritualmordes ein Beweismittel eingesteckt haben. Schon früh frage ich mich, ob Saga tatsächlich nur ihre Intuition nutzt, um scheinbar unmögliche Zusammenhänge herauszufinden.
Der brutale Ritualmord, bei welchem dem Opfer das Herz herausgeschnitten wurde, markiert den Auftakt einer düsteren und packenden Geschichte, die immer grössere Kreise im vermeintlich verschlafenen Kaff zieht. Es dauert nicht lange, da tauchen die ersten Schattengestalten auf. Das sind besessene, in Dunkelheit gehüllte Bewohnerinnen und Bewohner Bright Falls, die mit verzerrter Stimme Drohungen murmeln. Sie sind mit Wakes Geschichten verknüpft, die, wie aus dem ersten Teil bekannt, zunehmend mit der Realität verschmelzen.
Die Schattenwesen bekämpfe ich, indem ich sie zuerst mit der Taschenlampe schwäche und sie anschliessend mit der Pistole unschädlich mache. Die Steuerung ist deutlich präziser als im ersten Spiel und die Gegner-Variation hat zugenommen. Noch besser: Es gibt viel weniger Kämpfe. «Alan Wake 1» ist sehr actionlastig – zu actionlastig. In der Fortsetzung rückt sie in den Hintergrund, und das ist gut so. Das gibt mir mehr Zeit, die wunderschönen Orte genauer zu erkunden.
Ein Augenschmaus
Das Spiel packt mich mit seiner Stimmung und seinem Design von der ersten Sekunde an. «Alan Wake 2» sieht umwerfend aus. Angefangen von Bright Falls, das im Morgenrot und leichtem Nebel zum Verweilen einlädt, über finstere Wälder, die nur das Scheinwerferlicht meiner Taschenlampe durchschneiden kann, tauche ich kopfüber in die Welt ein. Remedy beherrscht das Licht- und Farbenspiel perfekt. Das haben sie schon in «Control» eindrücklich bewiesen. In «Alan Wake 2» fliessen nun alle Lehren der vergangenen Spiele ein. Von den detailliert gestalteten Einrichtungen, die ich bisher nur von «Crunch», den gebeutelten Naughty-Dog-Spielen, gekannt habe, bis zu den abwechslungsreichen Gebieten, wird mir enorm viel geboten. Dadurch, dass die Geschichte Fiktion und Realität mischt, sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt.
Die Story ist mit einer ungewöhnlichen Mischung aus Game-Grafik und echten Videosequenzen packend inszeniert. Dieses Experiment hat Remedy schon mit «Quantum Break» gewagt. Dort sind Gameplay und Live-Action-Videos getrennt, was es schwer macht, sich hineinzuversetzen. In «Alan Wake 2» sind die beiden Elemente ineinander verflochten. Ob beim Profiling oder bei den typischen Jumpscares, in denen verzerrte Fratzen aufblitzen, werden die Spielfiguren und ihre echten Pendants vermischt.
Game trifft auf Live-Action
Dann gibt es Momente, in denen das Spiel komplett zum Film wird. Beispielsweise, wenn ich zum ersten Mal Alan steuern darf. Er findet sich in einer Studio-Garderobe wieder. Auf einem Fernseher läuft eine Talkshow mit einem bekannten Autor als Gast: Alan Wake, natürlich. Nur daran kann sich Alan überhaupt nicht erinnern. Mit einem Klick auf den Fernseher finde ich mich plötzlich in der Talkshow wieder. Ab hier werde ich für ein paar Minuten zum Zuschauer. Für mich passt die Mischung perfekt. Die Schauspielerinnen und Schauspieler bringen mehr Emotionalität und Glaubwürdigkeit rüber als ihre animierten Abbilder. Und schon die sind erstaunlich ausdrucksstark. Das hängt auch damit zusammen, dass sie toll geschrieben sind.
Remedy-typisch gibt es reihenweise kauzige Gestalten. Allen voran Ahti, der Hausmeister. Der hatte seinen ersten Auftritt in «Control» und fegt die letzten Zweifel beiseite, dass die zwei Spiele nicht im gleichen Universum angesiedelt sind. Ahti taucht regelmässig mit seinem Putzeimer auf und hat kryptische Weisheiten parat, die er in einer Mischung aus Finnisch und Englisch zum Besten gibt. Passend zur geheimnisvollen Reinigungskraft: Über eine Pfütze neben seinem Putzeimer kann ich zwischen den Protagonisten hin- und herspringen. Frag nicht, das ist noch etwas vom Normaleren in diesem Spiel.
Schlösserknacken mit Mathematik
Ob ich zuerst alle Episoden von Saga oder die von Alan durchspiele, ist offenbar egal. Für die Qualität des Spiels spricht, dass ich immer bei beiden weiterspielen will. Die Abschnitte sind in der Regel in grösseren, halboffenen Arealen angesiedelt, die zum Erkunden einladen. Teile davon sind abgesperrt. Sei es durch Schlösser, für die ich erst den Bolzenschneider brauche oder Türen, die sich nur mit dem passenden Schlüssel öffnen lassen. Hier ähnelt das Spiel der «Resident Evil»-Reihe. Trotz übernatürlicher Phänomene sind die Rätsel aber einigermassen plausibel. Munition und Medikits liegen in Kisten, weil der Kult sie dort als eigene Reserve versteckt hat.
Die Zahlencodes für die Vorhängeschlösser können trotz steigender Gefolgschaft aber nicht per Gruppenchat ausgetauscht werden. Die Hinweise für die Codes finde ich meist am gleichen Ort. Mal muss ich lediglich den Zettel mit dem Code finden, mal muss ich mehrere Hinweise kombinieren. Am meisten ins Schwitzen bringen mich Gleichungen, deren Ergebnis der dreistellige Code ist. Fünftklässler lösen sie wahrscheinlich innert Minuten. Ich wäre heute noch dran, wenn mir nicht meine Frau geholfen hätte – Abends um 23 Uhr ist aber auch nicht die ideale Zeit für solches Gehirnjogging.
Ich schreibe meine eigene Geschichte
Nach und nach decken Saga und Alan immer neue Geheimnisse um den Kult und die Dunkelheit auf. Alan helfen dabei seine übernatürlichen Schreibfähigkeiten. Ähnlich wie Saga hat auch er eine Art Gedankenpalast, in dem er Fotos und Texte sammelt. Damit erhält er Inspirationen, um Szenen im Spiel umzuschreiben. So wird aus einer Wand plötzlich ein Durchgang oder ein gefluteter Keller wird trocken gelegt. Auch wenn der Gedankenpalast streng genommen nur ein glorifiziertes Menü ist, fügt es sich gut ins Spiel ein. Nur einmal hat mich die Mechanik genervt, als ich einen bestimmten Gegenstand holen musste. Ich wusste bereits, was ich tun musste, konnte aber nicht mit dem Gegenstand interagieren. Erst dachte ich, es muss ein Fehler sein. Aber auch ein Neustart half nichts. Erst als ich im Gedankenpalast die letzten Hinweise kombinierte und damit auch Saga geschnallt hat, was zu tun ist, konnte ich den Gegenstand mitnehmen. Das ist zum Glück nur einmal passiert.
Schon jetzt ein Meisterwerk
Die Mischung aus Detektiv spielen, detaillierte Umgebungen erkunden, die Kämpfe mit den Besessenen sowie die verworrene Geschichte machen «Alan Wake 2» zu etwas ganz Besonderem. Die Inszenierung gehört zum besten, was ich je in einem Spiel gesehen habe. Da muss sich sogar «Cyberpunk 2077» geschlagen geben. Ich spiele am PC mit allen Details auf dem Maximum, aber auch auf den Konsolen weiss das Spiel zu beeindrucken.
Das hängt auch mit der Art der Inszenierung zusammen. Das Einflechten von Videosequenzen lockert das Spielgeschehen auf und macht die Figuren nahbarer. Dazu zählen auch die Remedy-typischen Kurzfilmchen, die gelegentlich über die Fernsehbildschirme flimmern. In «Alan Wake 2» sind das absurde Werbespots eines lokalen Unternehmer-Duos, in denen sie ihre verschiedenen Geschäftsideen vorstellen.
Das fantastische Sounddesign muss ich ebenfalls erwähnen. Das fängt bei den tollen englischsprachigen Sprechern an, allen voran James McCaffrey mit seiner herrlich rauen Stimme. Die beschert mir genau wie die unheimliche Geräuschkulisse regelmässig angenehme Gänsehaut. Der Soundtrack begleitet das ganze mal laut und opulent, mal leise und sanft. Und passt dabei immer haargenau.
Noch bin ich nicht am Ende von «Alan Wake 2». Mit knapp 15 Stunden dürfte ich etwas über der Hälfte sein. Ich kann es kaum erwarten, den Rest zu erleben. Eine Bruchlandung kann ich mir kaum vorstellen. Für mich ist es darum schon jetzt Remedys bestes Werk. «Alan Wake 2» ist ein packender Psychothriller, den du dir nicht entgehen lassen solltest.
«Alan Wake 2» ist erhältlich für PC, PS5 und Xbox Series und wurde mir von Remedy zur Verfügung gestellt.
Als Kind durfte ich keine Konsolen haben. Erst mit dem 486er-Familien-PC eröffnete sich mir die magische Welt der Games. Entsprechend stark überkompensiere ich heute. Nur der Mangel an Zeit und Geld hält mich davon ab, jedes Spiel auszuprobieren, das es gibt und mein Regal mit seltenen Retro-Konsolen zu schmücken.