Unvollkommen, aber wertvoll: Was mich tropfende Kerzen in Mexiko über das Leben lehrten
Hintergrund

Unvollkommen, aber wertvoll: Was mich tropfende Kerzen in Mexiko über das Leben lehrten

Pia Seidel
6-12-2024

So sehr ich schöne Kerzen liebe, haben sie in mir immer auch eine unschöne Seite ausgelöst. Vor Kurzem habe ich jedoch begonnen, die brennenden Wachsskulpturen – und viele andere Dinge – neu zu betrachten.

Brennende Kerzen lösten früher gemischte Gefühle in mir aus. Ich mochte ihr sanftes Licht und die vielfältigen Designs, aber sie stressten mich oft. Wenn ich sah, wie Wachs heruntertropfte und die Kerze fast den Boden erreichte, wurde ich nervös. Wenn ich zu Hause mit Gästen sprach, schaute ich nicht in ihre Augen, sondern auf die Kerzenflamme auf dem Tisch. Beim Filmschauen gab ich den Kerzen auf dem Sideboard die Hauptrolle und machte mich bereit, sie auszupusten, bevor sie unkontrolliert zerfliessen konnten. Zu sehr hätte es mich genervt, das Wachs abkratzen zu müssen, das daneben geht.

Vor einigen Wochen reiste ich für einen Monat nach Mexiko und sah in diversen Hotels, Restaurants und Geschäften immer wieder, dass die Kerzen dort einfach vor sich hin tropften. Mein erster Gedanke war: Das wird aufwändig, das Wachs zu entfernen. Mein zweiter: Was, wenn das hier gar nicht zur Debatte steht? Die vielen Wachsschichten deuteten darauf hin, dass der freie Fluss hier sogar gewollt ist. Zufällig sah ich, wie in einem der Hotels die Stabkerzen ausgetauscht wurden. Der Mitarbeiter wählte eine andere Farbe als zuvor. Ob bewusst oder nicht – das Ergebnis war beeindruckend. Die bunten, regenbogenfarbenen Wachsspuren verwandelten die schlichten Steinkerzenhalter in echte Hingucker.

Hotel Casa TO, Puerto Escondido
Hotel Casa TO, Puerto Escondido
Quelle: Pia Seidel

Inspiration durch neue Perspektiven

Warum ich dafür erst nach Mexiko gehen musste, hat einerseits etwas mit der dortigen Gestaltung von Innenräumen, Gebäuden und Städten zu tun. Die Wachstropfen sind nur eines der wundervollen unperfekten Phänomene. Da wären auch noch die losen von Häusern und Masten hängenden Kabel oder die grossen, entsorgten Eisblöcke auf der Strasse, die Unebenheiten in Gehwegen – all das erschien mir in Mexiko-Stadt eher charmant als unperfekt. Andererseits war mein Blick wacher für die Dinge um mich herum. Ich konnte mir mehr Zeit nehmen, alles genauer anzusehen und war offen für Neues.

Gelassenheit durch Loslassen

Zurück in Zürich nehme ich mir vor, meinen Kerzen freien Lauf zu lassen. Ich achte weiterhin darauf, dass sie auf einer grosszügigen, feuerfesten Unterlage stehen, bleibe jedoch ruhig, wenn etwas daneben geht. Wenn die Kerze in die «falsche» Richtung tropft, springe ich nicht mehr vom Sofa auf, um sie hastig auszublasen. Die Wachstropfen der vorherigen Kerze lasse ich bestehen, wenn ich sie durch eine neue ersetze, auch wenn die Farbe eine andere ist.

Shop Avec Joyeria, Mexiko-Stadt.
Shop Avec Joyeria, Mexiko-Stadt.
Quelle: Pia Seidel

Wabi Sabi: Akzeptanz von Unvollkommenheit

Weil ich mich mit jedem vermeintlich unerwünschten Tropfen insgesamt gelassener und zufriedener fühlte, begann ich die mit den Kerzen gewonnene Gelassenheit zu erkunden. Dabei stiess ich auf das Buch «Wabi Sabi: Japanese Wisdom for a Perfectly Imperfect Life» von Beth Kempton. Die Autorin mischt alte japanische Weisheiten mit praktischen Alltagstipps und spricht dabei Themen wie Minimalismus, Achtsamkeit und die Kunst des Loslassens an. Wabi Sabi ist eine ästhetische und philosophische Sichtweise, welche die Schönheit in Dingen betont, die unvollkommen, vergänglich und unvollständig sind.

Das Buch hat mich dazu angeregt, nicht nur meinen Umgang mit Kerzen zu überdenken, sondern auch in anderen Bereichen meines Lebens mehr innere Ruhe zu finden. Sei es im Job, beim Sport oder sogar beim Dating: Ein Text stockt? Dann lasse ich ihn eben so stehen und mache etwas anderes. Ein Typ schreibt nach einem Date nicht, obwohl er schon Zukunftspläne geschmiedet hatte? Dann lasse ich ihn eben einfach ziehen, anstatt mir den Kopf zu zerbrechen. Die Wachsskulpturen aus Mexiko haben mich gelehrt, dass nicht alles perfekt sein muss, um wertvoll oder schön zu sein.

Restaurant «Taverna», Mexiko-Stadt.
Restaurant «Taverna», Mexiko-Stadt.
Quelle: Pia Seidel
Titelbild: Pia Seidel

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Wie ein Cheerleader befeuere ich gutes Design und bringe dir alles näher, was mit Möbeln und Inneneinrichtung zu tun hat. Regelmässig kuratierte ich einfache und doch raffinierte Interior-Entdeckungen, berichte über Trends und interviewe kreative Köpfe zu ihrer Arbeit. 


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