Traumforscher: «Wir deuten Träume nicht mehr, wir arbeiten mit ihnen»
Hintergrund

Traumforscher: «Wir deuten Träume nicht mehr, wir arbeiten mit ihnen»

Annalina Jegg
25-11-2022

Traumsymbole sind Schnee von gestern, sagt Traumforscher Michael Schredl. Heute geht es um die Arbeit mit Träumen. Im Interview verrät er, wie das dein Leben bereichern kann.

Träume haben etwas Magisches und faszinieren Menschen seit jeher. Bis heute weiß die Forschung nicht genau, warum Menschen eigentlich träumen. Sicher ist aber: Wer mit seinen Träumen arbeitet, kann viel lernen. Das sagt Prof. Dr. Michael Schredl. Er ist Traumforscher und Leiter des Schlaflabors im Mannheimer Zentralinstitut für seelische Gesundheit.

Was ist eigentlich ein Traum, Herr Schredl? Wie definieren Traumforscher das?

Michael Schredl: Es gibt zwei Definitionen: Das eine ist der Traum bzw. Traumbericht. Also das Erlebte, an das wir uns nach dem Aufwachen erinnern können. Das andere ist das Träumen als subjektives Erleben während wir schlafen. Letzteres ist immer vorhanden, denn das Gehirn schläft nicht. Es ist als biologisches Organ immer an. Man kann das Gehirn nicht abschalten. Das bedeutet: Im Schlaf träumen wir durchgehend, wir hören genau dann auf zu träumen, sobald wir aufwachen.

Wirklich jeder träumt im Schlaf und das ständig? Wieso behaupten dann viele Menschen, dass sie nie träumen?

Ja, jeder träumt. Es kommt aber auf die persönliche Haltung beim Aufwachen an: Manche Menschen wachen auf und denken: Was steht heute an? Was muss ich jetzt machen? Oder auch: Oh, ich bin noch so müde, ich dreh mich nochmal um. Wenn mich das Träumen nicht interessiert, gewöhne ich mir diese Haltung an und habe keine Traumerinnerung. Kurz gesagt: Mit dieser Haltung kommen Menschen gar nicht auf die Idee, sich aktiv an einen Traum zurückzuerinnern.

Können wir das ändern?

Vorsichtig gesagt kann fast jeder die Traumerinnerung durch Aufmerksamkeitslenkung fördern und sich so mehr an Träume erinnern. Konkret: Man nimmt ein Traumtagebuch zur Hand und kreuzt in den nächsten zwei Wochen täglich an, ob man geträumt hat oder nicht. Wer das übt, kann seine Traumerinnerung massiv steigern. Was übrigens zeigt: Sich an einen Traum zu erinnern oder nicht, ist kein Erklärungsfaktor für psychische Gesundheit.

Aus gesundheitlicher Sicht ist es egal, ob man sich um seine Träume kümmert oder nicht?

Genau, das wollte ich damit sagen. Es macht keinen Unterschied. Das Gehirn macht nachts trotzdem alles, was es machen soll. Ob Sie sich morgens daran erinnern oder nicht, spielt keine Rolle. Wer keinen Spaß am Traumerinnern hat, sollte es darum sein lassen.

Warum sollte man es aber tun – nützt die Traumarbeit unserer Psyche?

Erstens: Die Arbeit mit Träumen macht Spaß. Träume sind kreativ und es ist eine Bereicherung, sich damit zu beschäftigen. Zweitens: Wenn man sich mit negativen Träumen auseinandersetzt und diese bewältigt, verschwinden sie! Das ist ein schöner Effekt, weil wir dann besser schlafen und weniger Albträume haben. Drittens: Durch die Arbeit mit Träumen lernen wir mehr über uns und können besser mit dem Leben zurechtkommen. Wir entwickeln uns weiter. Ehrlicherweise muss ich aber sagen: Zu diesem Punkt gibt es keine aussagekräftigen Langzeitstudien.

Hat die Forschung schon geklärt, warum wir träumen?

Wir träumen, weil das subjektive Erleben zur Funktion eines gesunden Gehirns dazugehört. Wie gesagt, das Gehirn lässt sich nicht abschalten – und Träume sind das Resultat daraus. Ob Träumen darüber hinaus eine zusätzliche Funktion oder einen zusätzlichen Nutzen hat? Das ist bis heute nicht geklärt. Es gibt zwar Theorien dazu, dass wir im Traum üben, tagsüber besser zu sein. Dass Träume also zum Beispiel das Überleben verbessern. Aber letztlich bleibt das – bisher – alles Spekulation.

Dann könnte es doch ausreichen zu sagen: Man träumt über das, was einen beschäftigt. Und aus.

Das Tolle an Träumen ist: Sie bieten einen neuen Blickwinkel. Damit beschäftige ich mich in meiner Arbeit am meisten. Ich habe meine eigene Methode entwickelt. Dabei gehe ich weg von einfachen Zuordnungen. Ich schaue mir näher an, was die Person erlebt im Traum, begleitet von der Frage: Was lässt sich aus dem, was die Person im Traum erlebt hat, lernen?

Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Nehmen Sie einen Verfolgungstraum. Ich laufe vor jemandem oder etwas davon. Was ich tun kann, um die Gefahr komplett zu vermeiden und mich aus der Misere zu ziehen, ist: aufwachen. Ich habe dann aber keine konstruktiven Fähigkeiten im Traum gezeigt. Das Grundmuster ist: Angst haben, weglaufen.

Zwischenfrage: Meinen Sie mit «Grundmustern» die bekannten «Traumsymbole»?

Nein, das ist nicht das gleiche. Traumdeutung mit Symbolen hat eine lange Tradition und ist auch von Sigmund Freud und C. G. Jung vertreten worden. Dabei wird einem Tier, einer Person, einer Landschaft eine bestimmte Bedeutung zugeordnet. Doch wir wissen: Trauminhalte werden davon beeinflusst, was eine Person im Wachzustand stark bewegt und was sie erlebt. Weil das Leben von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist, kann es keine eindeutige Zuordnung geben. Ein Beispiel: Mein Team und ich sind die ersten gewesen, die wissenschaftlich untersucht haben, wie häufig jemand von Hunden träumt – abhängig davon, ob die Person einen Hund hat oder nicht. Und, oh Wunder: Leute, die einen Hund besitzen, haben viel öfter von Hunden geträumt. Bei der Studie kam außerdem heraus: Personen, die in der Kindheit negative Erfahrungen mit Hunden gemacht haben, hatten auch als Erwachsene vermehrt negative Hunde-Träume. Da merkt man: Eine simple Deutung à la «Hund im Traum bedeutet dies oder jenes» bringt nichts.

Gut, was sind dann Grundmuster im Traum?

Bei Grundmustern, wie wir sie heute in der Traumtherapie anwenden, spielen konkrete Dinge oder Personen im Traum keine Rolle. Stattdessen geht es darum: Was hat das Traum-Ich erlebt und wie reagiert es darauf, was fühlt es? Am Beispiel Verfolgungstraum erklärt: Das Traum-Ich hat Angst und läuft weg. Das ist ein Grundmuster. Dabei ist es egal, ob der Verfolger ein Hund, Pferd oder Löwe ist. Wer sich den Traum im Wachzustand anschaut, darüber nachdenkt und spricht, kann viel lernen. Das belegen Studien. In der Traumtherapie fragen wir also die wache Person: Weglaufen bringt nichts, was könnte man sonst machen? Den meisten fällt sofort etwas ein. Sie können sich dem Verfolger entgegenstellen, sich umdrehen und fragen: Was willst du von mir? Wenn man das im Wachzustand übt, verschwinden Verfolgungsträume oft relativ schnell.

Jeder Mensch lebt und träumt anders. Dann sind auch Grundmuster bei allen Menschen anders?

Grundmuster unterscheiden sich von Mensch zu Mensch, sind aber im Kern immer ähnlich. Denn den Umgang mit Ängsten, Trauer oder Wut vermittelt jede Kultur ein bisschen anders. Wir haben zum Beispiel untersucht, dass Kinder in den 1960er Jahren von Hexen und Teufeln im Traum verfolgt wurden, in den 1920er Jahren war der Schwarze Mann der Verfolger und heute sind es böse Figuren aus Comics und Filmen.

Jetzt also die große Frage: Wie deuten wir Träume?

Wir deuten Träume nicht. Wir arbeiten mit Träumen. Symbole zu deuten, wie in der klassischen Traumdeutung – von dieser Sichtweise haben wir uns verabschiedet. Traumdeutung kann zwar Spaß machen, mehr aber nicht. Anders ist es bei der Arbeit mit Träumen. Wir stellen uns folgende Grundfrage: Was hat mein Traum mit dem zu tun, was aktuell in meinem Leben los ist? Welche Schlüsse kann ich aus diesem Traum ziehen?

Wenn Träume mit dem aktuellen Leben zu tun haben: Wieso hat eine Kollegin von mir noch Jahre später, als sie längst im Beruf war, von Mathematik-Prüfungen geträumt? Mathematik war ihr Angstfach in der Schule.

Die Frage ist: Warum taucht der Traum auf, obwohl die Kollegin die Schule erfolgreich absolviert hat? Die Sache ist abgeschlossen, es wird nie wieder eine Prüfung in Mathematik geben. Eine Erklärung ist: Der Traum sucht ein Thema aus, das Angst macht und mit der Lebenserfahrung verbunden ist – und versucht es darzustellen. Das Grundmuster bei «Prüfung» ist: Wie bewerten andere meine Leistung? Das ist etwas, das im späteren Berufsleben auch noch vorkommt. Der Traum zeigt die damit verbundene Angst: Schaffe ich das, kann ich das leisten, bin ich dafür schlau genug? Was könnten die Vorgesetzten oder die Kollegen über das denken, was ich heute als Leistung abgegeben habe?

Das Traumthema spiegelt die Grundangst vor der Bewertung durch andere?

Genau. Dazu müssen Sie wissen: Der Traum neigt dazu, bei Angstthemen wie ein guter Filmregisseur zu dramatisieren. Im Wachzustand handelt es sich vielleicht um eine kleine Sorge darüber, was andere von mir denken. Im Traum aber falle ich durch die Mathematikprüfung oder habe keine Ahnung vom Stoff. Wenn der Traum negativ ausgeht, zeigt er: Da gibt es eine Angst, die im Wachzustand vorhanden ist. Übrigens ist unser Traum-Ich emotional schwächer als das Wach-Ich. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass unser Traum-Ich stärker zurückgreift auf die Kindheit. Also auf alles, was man früher erlebt hat.

Fassen wir zusammen: Jeder sollte so mit Träumen arbeiten, wie er oder sie Lust dazu hat und es die Umstände zulassen?

Genau. Das Einzige, wo es wirklich Motivation braucht, sind unangenehme Themen wie Albträume. Ansonsten bringt ein Traum die Motivation, sich mit ihm zu beschäftigen, meist von alleine mit. Aber niemand muss sich zu Traumarbeit zwingen. Was schade ist: Leider werden Träume häufig in die esoterische Ecke geschoben. Oder: Anhänger von C. G. Jung glauben gar, in der Botschaft des Traumes ein höheres Selbst zu erkennen, dank dem auf einmal alles gelingt. Wer an so etwas glaubt, braucht eine hohe Frustrationstoleranz. Denn es funktioniert natürlich nicht so, wie es manch esoterischer Buchautor verspricht. Doch wirft man solchen Ballast ab und sieht Träume einfach als Erlebnisse, aus denen sich etwas lernen lässt: Dann erlebt man den Umgang mit der Traumarbeit viel nüchterner und entspannter.

Titelbild: Megan Thomas via unsplash.com

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Annalina Jegg
Autorin von customize mediahouse

Mich buchstabiert man so: Aufgeschlossen, Nachdenklich, Neugierig, Agnostisch, Liebt das Alleinsein, Ironisch und Natürlich Atemberaubend.
Schreiben ist meine Berufung: Mit 8 habe ich Märchen geschrieben, mit 15 «supercoole» Songtexte (die nie jemand
zu lesen bekam), mit Mitte 20 einen Reiseblog, jetzt Gedichte und die besten Beiträge aller Zeiten! 


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