Ratgeber
Was ich im Toilettentraining gelernt habe
von Natalie Hemengül
Ist Pipi verkneifen ungesund? Wann ist der richtige Zeitpunkt, um aufs Klo zu gehen? Besser im Stehen oder im Sitzen? In diesem Interview lernst du, wie du Wasser lässt, ohne deine Gesundheit zu gefährden.
Vor ein paar Jahren besuchte ich ein Toilettentraining. Es ist, wonach es klingt. Lernen, wie man richtig aufs Klo geht. Gross aufs Klo geht. Gross war auch die Erkenntnis, dass ich so gut wie nichts über diese Körperfunktion wusste. Schlimmer noch. Ich machte am stillen Örtchen einiges falsch. Das Gelernte hielt ich damals in einem Beitrag fest:
Heute, fünf Jahre später, frage ich mich: Wie geht Pinkeln? Du lachst jetzt vielleicht. Aber, weisst du es? Seit zwei Jahren mache ich regelmässig Pilates und kann regelrecht spüren, wie mein Beckenboden dadurch gekräftigt wurde. Auch auf dem WC. Habe ich meine Blase wie gewohnt entleert, helfe ich mittlerweile mit dem Beckenboden nach, um noch das letzte Bisschen aus der Blase zu pressen. Eine komische Angewohnheit – und wie ich im folgenden Gespräch lernen soll, auch eine äusserst ungesunde. Also ja, wie und wann pinkelt man richtig? Judith Krucker ist Expertin für Beckenboden- und Blasengesundheit und hat Antworten auf meine Fragen.
Judith, ich fürchte, wir müssen mit etwas Theorie in unser Gespräch starten. Was geschieht in unserem Körper, wenn wir Wasser lassen?
Judith Krucker: Den Wasserlösmechanismus nennen wir in der Fachsprache Miktionszyklus. Vereinfacht läuft er in vier Schritten ab. In der Füll- und Speicherphase sind die Muskeln der Blase entspannt, die Blase füllt sich langsam. Ist sie ungefähr zur Hälfte gefüllt, nehmen wir die ersten Signale des Harndranges wahr. Das Volumen nimmt weiter zu und sensible Nerven melden nun ans Grosshirn, dass die Blase bald gefüllt ist. Der Beckenboden erhöht die Spannung und erhöht so den Verschlussdruck der Harnröhre, um eine vorzeitige Blasenentleerung zu verhindern.
Das heisst, spätestens jetzt sollte ich eine Toilette aufsuchen?
Richtig, denn jetzt folgt die Eröffnungsphase. Du sitzt auf dem Klo. Dabei wird der Übergang von der Harnröhre in die Blase weit, es kommt zu einer Trichterbildung im Bereich des Blasenhalses. Während der Entleerungsphase entspannen sich der Beckenboden und die Muskeln der Harnröhre. Nun beginnt die Arbeit der Blase, der Blasenmuskel spannt sich an und der Urin fliesst. In der Verschlussphase nimmt der Harnstrom ab. Die Muskeln der Harnröhre und des Beckenbodens spannen wieder an, die Trichterbildung verschwindet und der Zyklus beginnt von vorne.
Wann ist der richtige Zeitpunkt, um auf die Toilette zu gehen?
Wenn die Blase gut gefüllt ist. Konkret sind das zwischen 300 bis 550 Milliliter Urin. Das macht bei einem empfohlenen Wasserkonsum von eineinhalb bis zwei Litern am Tag drei bis fünf Toilettengänge. Einmal nachts aufstehen ist ebenfalls noch okay.
Entspricht das dem Zeitpunkt, ab dem die ersten Signale ans Grosshirn gehen?
Nein, die ersten Signale können schon bei 100 bis 200 Millilitern wahrgenommen werden. Diese werden über die Rezeptoren in der Blasenwand gemeldet.
Also sollte ich die ersten Signale einfach ignorieren?
Richtig. Die Blase ist ein Gewöhnungsorgan. Wenn du immer auf das erste Signal hörst, verwöhnst du sie und musst in immer kürzeren Abständen auf die Toilette. Mit der Zeit kann die Blase dann nicht mehr genügend Urin halten und es kommt zu einer antrainierten Dranginkontinenz. Überlege dir deshalb gut, ob du tatsächlich einen Harndrang verspürst oder ob du vorsorglich gehst.
Aber wie merke ich dann, wann ich bei dieser empfohlenen Urin-Marke angekommen bin?
Das ist gar nicht so einfach und setzt ein gutes Körperbewusstsein voraus. Wer das trainieren möchte, dem empfehle ich einen Miktionskalender zu führen. Das ist eine Art Tagebuch, in dem du deine Blasentätigkeit, das Trink- und das Toilettenverhalten protokollierst. So lernst du deine Blase und das Bedürfnis sie zu entleeren, besser kennen.
Wie viel Urin kann eine volle Blase überhaupt halten?
In der Literatur ist ein Fassungsvermögen von 800 Millilitern noch im Rahmen. Danach wird’s kritisch. Aber das ist lediglich ein Richtwert. Jede Blase ist anders.
Kann denn eine zu volle Blase Schäden verursachen?
Stell dir vor, wie stark sich die Blase ausdehnen muss, bis sie Platz für so viel Urin schaffen kann. Die Blasenwand ist dann nur noch sehr dünn, die Blasenmuskulatur kann sich so zum Wasserlassen nicht mehr gut zusammenziehen. Sie ist in dieser extremen Dehnung schwach. Wenn sich regelmässig mehr als 550 Milliliter Urin in deiner Blase ansammeln, sollte die Entleerung nicht hinausgezögert werden. Hinzu kommt das Alter – jahrelange Überdehnungen der Blase können zu einer Überlaufinkontinenz führen. Das heisst, die Blase läuft dann über.
Ich habe gehört, dass das Anhalten des Urinstrahls während des Wasserlassens eine gute Beckenbodenübung sein soll.
Der sogenannte Pipi-Stopp wurde jahrelang als Beckenbodentraining empfohlen. Das ist jedoch eine veraltete Therapieform. Inzwischen ist bekannt, dass diese Übung schädlich sein kann, weil sie der Aufgabe der Blase widerspricht.
Inwiefern das?
Die Blasenentleerung wird von unserem vegetativen Nervensystem ausgelöst. Wird dieser Vorgang immer wieder gestört, irritiert das die Blase. Zudem ist der kleine Harnröhrenverschlussmuskel darauf eingestellt loszulassen. Soll er immer wieder entgegen diesem Bedürfnis arbeiten, kann das zu Blasenentleerungsstörungen führen.
Das Zusammenziehen des Blasenmuskels ist also kein «aktiver» Akt, den ich beeinflussen kann. Es geschieht sozusagen auf Autopilot?
Ja, die Blase arbeitet unwillkürlich. Aber leider wird immer versucht, durch Pressen die Blasenentleerung zu beschleunigen. Das belastet die Blase jedoch und irritiert den Vorgang, den neurologischen, natürlichen Reflex. Häufig wird die Blase dann auch nicht ganz entleert. Restharn bleibt in der Blase – dies steigert die Gefahr für Infekte.
Welche Rolle spielt der Beckenboden dann bei der Entleerung der Blase?
Der Beckenboden ist unser Kontinenzmuskel. Er ist in einer Grundspannung, damit kein ungewollter Urin, Stuhl oder Wind abgeht. Der Beckenbodenmuskel hilft, indem er sich bei der Entleerung ganz entspannt, loslässt, damit der Urin fliessen kann. Am Schluss der Miktion spannt er sich wieder an, damit kein Urin ungewollt hinaus fliesst.
Gibt es eine korrekte Art, die Blase zu entleeren?
Mit den Jahren entwickeln alle ihr eigenes Toilettenverhalten. Grundsätzlich empfehle ich aber vier Tipps. Der erste ist ein bequemer Sitz mit offenen Beinen. Setze dich, selbst wenn du unterwegs bist. In der Kniebeuge-Stehposition kann sich die Blase nicht gut entspannen. Der Urin wird nur mühsam aus der Blase hinaus befördert. Die optimale Position zur Blasenentleerung ist in einer leichten Hohlkreuzhaltung.
Viele Männer stehen gerne beim Pinkeln. Ist das denn ungesund?
Der Mann hat keine Nachteile, wenn er im Stehen pinkelt. Im Gegenteil, die Haltung im leichten Hohlkreuz, die dabei entsteht, ist ideal für die Entleerung der Blase. Bei der Darmentleerung ist das Gegenteil richtig: ein leicht gerundeter Rücken. Meist möchten diejenigen, die die Toilette reinigen, dass der Mann sitzt. Das entspricht aber nicht der natürlichen Position für die Blasenentleerung.
Ich brauche beim Pinkeln also anders als bei der Entleerung des Darms nicht meine Füsse hochzustellen?
Nein, beim Pinkeln ist dies nicht nötig. Tipp Nummer zwei lautet: Nimm dir Zeit und entspanne dich. Die Eröffnungsphase dauert nur einen kurzen Moment. Gib deinen Muskeln Zeit, sich vom Zurückhalten auf das Loslassen umzustellen. Unterstützend kannst du helfen, indem du mit einem Aaaaa… ausatmest. Eine andere bekannte Methode ist, den Wasserhahn anzustellen.
Moment! Ich dachte immer, es sei ein Mythos, dass das Geräusch von fliessendem Wasser den Harndrang fördert ...
Kein Mythos. Es ist tatsächlich so und wird auch von Urologen und Urologinnen empfohlen.
Wie lautet Tipp Nummer drei?
Kein Pressen, kein Drücken. Das Wasserlösen geschieht, wie wir bereits gelernt haben, allein durch die Kraft der Blase. Pressen ist für deinen Beckenboden und die Bänder, die die Organe wie die Gebärmutter, Blase etc. an ihrem Ort fixieren, eine enorme Belastung. Zudem spannt sich der Beckenboden beim Pressen automatisch an, sodass der Widerstand noch grösser wird. Eine vollständige Blasenentleerung ist dann meist nicht mehr möglich. Frauen, die täglich mehrmals pressen, können sich so ein Organsenkung antrainieren.
Das heisst?
Dass Organe wie Gebärmutter, Blase, Harnröhre oder Darm nach unten rutschen. Beim Pressen wird der Kehlkopf verschlossen, das Zwerchfell spannt sich an und wird nach unten verlagert. Dies führt zu einer Verlagerung der Organe im Bauchraum nach unten. Der Beckenboden und die ganze Aufhängung der Organe werden stark belastet und überdehnt. Durch das jahrelange Pressen werden die Organe immer wieder nach unten gedrückt.
Welche Folgen hat so eine Organsenkung?
Die Probleme, die dadurch entstehen können, sind vielfältig. Eine Senkung übt Druck auf den Beckenboden aus. Das bedeutet, dass dieser einen zusätzlichen Kraftaufwand hat, um «dicht» zu bleiben. Drückt die Gebärmutter auf die Blase, kann sie auch den Miktionsfluss beeinflussen. Eine Darmsenkung kann zu Verstopfung führen. Organsenkungen sind eigentlich nur bei Frauen möglich. Männer haben ein schmaleres Becken und sind, was die Beckenbodenproblematik angeht, etwas im Vorteil.
Und dein letzter und vierter Tipp?
Nach der Entleerung den Beckenboden anspannen. Wenn die Blase oder der Darm entleert ist, spannt sich der Beckenboden spontan an. An der Stelle kannst du eine tägliche Übung einbauen: Nach jedem WC-Gang spannst du deinen Beckenboden einmal kräftig an, hältst ihn ein paar Sekunden und lässt dann bewusst los. Dann kehrt der Beckenboden in seine Grundspannung zurück.
Als Disney-Fan trage ich nonstop die rosarote Brille, verehre Serien aus den 90ern und zähle Meerjungfrauen zu meiner Religion. Wenn ich mal nicht gerade im Glitzerregen tanze, findet man mich auf Pyjama-Partys oder an meinem Schminktisch. PS: Mit Speck fängt man nicht nur Mäuse, sondern auch mich.