Bitter - Der vergessene Geschmack
Deutsch, 2016, Manuela Rüther
Schon im Mutterleib reagieren Babys auf den Geschmack bitterer Lebensmittel – und verziehen den Mund. Geht dir das als Erwachsener auch noch so? Dann ist dieser Text für dich.
Er gilt als bitterster synthetischer Stoff der Welt: Denatoniumbenzoat. In derselben Liga, jedoch auf der natürlichen Seite, spielt der Gelbe Enzian: Löste man ein Schnapsglas mit seinem Bitterstoff Amarogentin in 58 Millionen Litern Wasser (entspricht ca. 26 Olympiaschwimmbecken) auf, würde das Wasser immer noch bitter schmecken.
Doch ob natürlich oder synthetisch hergestellt, Bitterstoffen ist nur eines gemeinsam: ihr bitterer Geschmack. Eine einheitliche chemische Gruppe sind sie nicht. Auch auf deinem Teller findest du Bitterstoffe in ganz unterschiedlicher Form: in Chicorée, Radicchio, Kohl, Rosenkohl, Spinat, Rucola, Grapefruit, Zitrone ... Falls du (Wild-)Kräuter magst, auch in Löwenzahn, Schafgarbe, Brennnessel, Liebstöckel, Kerbel, Estragon oder Pfefferminze.
Dass Menschen auf bittere Stoffe mit Abneigung reagieren (bei zu hoher Dosis kommt es gar zum Würgereiz), verdanken sie den Geschmacksknospen auf der Zunge und im Mundraum. Deren Bitterstoff-Rezeptoren melden den Geschmack ans Hirn, das das appetitregulierende Hormon Cholecystokinin ausschüttet – quasi eine natürliche Essbremse. Denn evolutionär betrachtet warnt die Wahrnehmung «bitter» vor dem Verzehr vermeintlich giftiger Nahrung.
Wobei in Natur und Chemie nicht grundsätzlich gilt: bitter = giftig. Zwar ist beispielsweise Cucurbitacin in Kürbisgewächsen in hohen Dosen tatsächlich giftig und von extrem bitter schmeckenden Zucchini solltest es ebenfalls die Finger lassen. Doch viele andere bittere Lebensmittel wirken gesund auf deinen Körper.
Nicht nur auf der Zunge, auch an vielen anderen Stellen im Körper haben Forschende in den vergangen 20 Jahren Bitterstoff-Rezeptoren entdeckt: So finden sich Andockstellen für Bitterstoffe in den Muskelzellen der Verdauungsorgane, in der Harnblase und in Lunge und Bronchien. Und diese Rezeptoren, schreibt Medizinerin Yael Adler in ihren Ratgeber «Genial vital!», «verändern immunologische Reaktionen, die Schilddrüsenfunktion und die Aufnahme von Nährstoffen aus dem Darm. Auch in Haut und Gehirn finden sich Bitterstoff-Rezeptoren, allerdings mit noch unklarer Bedeutung.»
Grundsätzlich weiß die Menschheit über die gesunde Wirkung von Bitterstoffen schon lange Bescheid: In der Ayurveda-Medizin wandte man bittere Heilkräuter vor fünftausend Jahren genauso an wie später Hildegard von Bingen in ihrer Klostermedizin oder auch Sebastian Kneipp in seiner Naturheilkunde. Auch die Bitterspirituose «Schwedenbitter», berühmt geworden im 18. Jahrhundert als Allheilmittel, basiert auf bitteren Kräutern. Der Schwedenbitter soll übrigens eine Abwandlung des Elixiers für ein längeres Leben («Elixir ad longam Vitam») von Paracelsus 200 Jahre zuvor sein. Im Mittelalter mündete das Volkswissen um die Vorzüge bittere Kräuter und Lebensmittel in diesen Spruch: «Was bitter im Mund, ist dem Magen gesund».
Doch im 20. Jahrhundert, noch bevor überall im Körper Bitterstoff-Rezeptoren gefunden wurden, verloren Bitterstoffe plötzlich medizinisch betrachtet an Bedeutung. «Sie wurden nur noch als Aperitif und Magenbitter zur Appetitanregung verwendet und aus dem Gemüse immer mehr herausgezüchtet», schrieben drei Forschende von der Klinik für Dermatologie und Venerologie am Universitätsklinikum Freiburg 2017 in ihrem Beitrag für das Fachorgan HAUT
Woran das liegt? Vermutlich an handfesten Interessen der Lebensmittelbranche: milderes, gar süßeres Gemüse lässt sich besser verkaufen als bitter schmeckendes. Das Spannende daran: Nicht jeder schmeckt bitter gleich stark, sondern es gibt genetische Unterschiede. Hinzu kommt: Besonders ablehnend reagieren Kinder auf bittere Lebensmittel. Und zwar schon als Ungeborene im Mutterleib, bewies diese Untersuchung, erschienen im Psychological Science: Aßen ihre Mütter (süß schmeckende) Karotten, reagierten Föten mit einem Lächeln. Sie verzogen ihre Gesichter hingegen zu einem «cry-face», wenn Mama Bitteres wie Grünkohl zu sich nahm.
Doch jetzt einmal Tacheles: Was genau macht Bitterstoffe so gesund? Einerseits zügeln sie den Appetit, andererseits wirken sie verdauungsfördernd, indem über die Bitterstoff-Rezeptoren der Speichel sowie Magen-, Gallen- und Bauchspeichelsäfte vermehrt angeregt werden. Auch wird die Bewegung des Magen-Darm-Trakts gesteigert – gut für die Verdauung und Aufspaltung aller Mikronährstoffe. Durch den vermehrten Gallenfluss profitiert zudem die Leber – prima für die Blutfettwerte und den Cholesterinspiegel.
Was steht am Ende dieser Prozesse? Das Gefühl, satt zu sein. Bitterkomponenten fungieren als natürliche Essbremse und können dem Heißhunger auf Süßes vorbeugen. Das wusste die Traditionelle Chinesische Medizin schon lange und stufte Bitteres als Gegenspieler zu Süßem ein. Falls du dir noch immer nicht vorstellen kannst, wie du Chicorée & Co in deinen Speiseplan einbauen sollst, bringt dich vielleicht das Kochbuch von Manuela Rüther auf den Geschmack
«Du wirst bitter anders wahrnehmen als ich», schreibt sie auf ihrem Blog, denn so viele verschiedene chemische Verbindungen wie es unter dem Label «bitter» gibt, so viele unterschiedliche Bitternoten gibt es auch. Womöglich hast du bislang nur noch nicht die passende bittere Sorte für dich gefunden. Das Urteil von Fotografin und Kochbuchautorin Rüther jedenfalls ist eindeutig: «Wow, geiler Geschmack, da passiert etwas am Gaumen. Davon möchte ich mehr haben.»
Titelfoto: shutterstockIch hätte auch Lehrerin werden können, doch weil ich lieber lerne als lehre, bringe ich mir mit jedem neuem Artikel eben selbst etwas bei. Besonders gern aus den Themengebieten Gesundheit und Psychologie.