Mehr als nur Animation: «The Wild Robot» berührt die Seele
Ein Roboter, eine Insel und eine zu Tränen rührende Geschichte: «The Wild Robot» entführt uns in eine Welt voller Schönheit und Schmerz, wo ein einsamer Roboter lernt, was es bedeutet, zu leben und zu lieben.
Eines vorweg: In dem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur Infos, die aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt sind.
Es ist eines der gewaltigsten Unwetter, das die menschenverlassene Insel je heimgesucht hat. Dunkle Wolken verdecken den Himmel. Der Wind peitscht mit unglaublichem Druck übers Land. Wellen schlagen mit gewaltiger Kraft gegen die Felsenküste – aber Roz, ein Roboter, lässt sich davon nicht unterkriegen. Sie weiss zwar nicht, wie sie hierher gelangt ist.
Aber sie weiss, was ihre Aufgabe ist. Was ihre einzige Aufgabe ist: zu helfen.
Hilfe suchen die Tiere, welche die Insel bewohnen, aber nicht. Im Gegenteil. Sie jagen. Sie fressen. Sie kämpfen – meist ums Überleben. «Hat mich denn niemand von euch bestellt?», fragt Roz irgendwann doch noch. Alleine. Verwirrt. Beschädigt.
«Doch, ich», schiesst es mir durch den Kopf, während ich die spektakulären Bilder aus dem Hause DreamWorks Animation mit feuchten Augen aufsauge. Nur habe ich das bis vor ein paar Minuten noch gar nicht gewusst. 102 Minuten später – so lange dauert der Film – weiss ich dafür: «The Wild Robot» ist nicht nur einer der besten Animationsfilme des Jahres, sondern gar einer der besten Filme des Jahres. Punkt.
Darum geht’s in «The Wild Robot»
Rozzum 7134 (Lupita Nyong'o) – kurz «Roz» – ist kein gewöhnlicher Roboter. Sie wurde eigentlich als Unterstützung für Menschen in einer futuristischen und urbanen Welt entwickelt. Doch bevor sie ihren eigentlichen Empfänger erreicht, erleidet sie Schiffbruch. Die Insel, auf der sie strandet, könnte unerbittlicher nicht sein: Jagend und fressend kämpft die Tierwelt ihren Trieben folgend ums Überleben.
«Freundlichkeit ist keine Überlebensstrategie», wird Roz später erklärt.
Zu allem Übel fordert ein Unwetter auf der Insel noch den Tod einer ganzen Gänsefamilie – bis auf ein unversehrtes Ei. Das daraus schlüpfende Waisenkind? Roz' neue Aufgabe. Sie muss ihm das Fressen, Schwimmen und Fliegen beibringen, damit es später mit seinen Artgenossen dem Winter entfliehen und in den Westen migrieren kann. Aber wie um Himmels Willen soll das ihr, einem Roboter, gelingen?
Herz und Humor: Wie «The Wild Robot» das Publikum erobert
«Mir fehlt die Programmierung dafür», sagt die hilflos wirkende Roz, als das kleine Gänseküken den metallenen Droiden – das erste Wesen, welches das Küken sieht – als seine neue Mutter auserwählt. «Niemand hat sie», entgegnet ihr die von Catherine O’Hara gesprochene Opossum-Mutter, die sich händeringend um ihre eigenen sieben Kinder kümmert. «Wir improvisieren uns alle halt so durch.»
Im Kinosaal lachen nicht nur die Eltern unter den anwesenden Journalistinnen und Journalisten. Gefühlt ein Wunder; während Pressevorführungen wird eigentlich nie gelacht. Man muss ja professionell bleiben. «The Wild Robot» tut alles, um diese Professionalität zu durchbrechen. Erfolgreich. Sehr sogar.
Tatsächlich sind es vor allem diese kleinen, subtilen Dialoge, mit denen «The Wild Robot» mühelos und immer wieder unseren emotionalen Kern trifft. Mal tut’s weh. Mal wird einem das Herz vor Wärme fast schon schwer. Und dann – unweigerlich – kommt die alles überwältigende, heilende Katharsis, die das letzte bisschen an Selbstbeherrschung bricht. Kein Taschentuch zur Pressevorführung mitzunehmen, war ein Fehler, den fast alle Anwesenden bereuten.
Dabei hätte «The Wild Robot» durchaus das Potenzial gehabt, reichlich viel falsch zu machen. Viel, weil der Animationsfilm eine Menge Themen abhandeln und gleichzeitig eine Geschichte erzählen will. So etwas kann schnell überladen wirken. Unfokussiert und unausgegoren. Als ob zu viele Köche bei der Rezeptur mitgeredet hätten.
Been there, done that.
«The Wild Robot» wirkt aber nie überladen. Keine einzige Sekunde. Jedes Thema fliesst organisch ins nächste. Zunächst jenes um Zugehörigkeit. Das steht gerade anfangs im starken Kontrast zur instinktgetriebenen Insel, auf der sich alles gegenseitig fressen und töten will. Apropos, liebe Eltern: Bereitet euch darauf vor, euren Kindern Darwinismus zu erklären. Beschönigt wird in «The Wild Robot» nichts; auch der Tod ist Teil des Lebens.
Dann wandelt sich «The Wild Robot» langsam und subtil zu einer Eltern-Parabel über Liebe und Loslassen, als Roz, das Küken und der von Pedro Pascal gesprochene Fuchs eine Patchwork-Familie bilden. Und mit dem Älterwerden des Gänsekükens Brightbill fliessen allmählich Coming-of-Age-Elemente ein, als es lernen muss, sich in einer Welt zurechtzufinden, die weder auf ihn gewartet hat noch ihn haben will. Nichts davon wirkt deplatziert oder zuviel des Guten.
«Er hat gefunden, wo er hingehört», sagt Roz mit bittersüsser Freude und Traurigkeit in der Filmhälfte, als ihr einstiges Gänseküken zu einer Gruppe von Gänsen schwimmt, die es zum ersten Mal sieht.
Roz’ metallisches Antlitz zeigt keine Emotionen, doch die feinen Veränderungen in ihrer Stimme – subtil vermittelt durch Lupita Nyong'o – lassen uns spüren, wie Roz sich allmählich über ihre ursprünglich empathielose Programmierung hinweg entwickelt. Diese stimmliche Nuance trifft tief – und droht erneut, meine Gefühle zu überwältigen.
Von visueller Poesie und überwältigender Schönheit
Regie bei «The Wild Robot» hat Animationsveteran Chris Sanders geführt, der sich wiederum auf die gleichnamige Kinderroman-Vorlage von Peter Brown stützt. Brown hätte sich wohl keine bessere Adaption wünschen können – oder zumindest keinen, der es besser umgesetzt hätte als der 62-jährige Sanders. Ein kurzer Blick auf seine beeindruckende Filmografie zeigt, wie routiniert er arbeitet.
Sanders machte sich zunächst im Writers' Room bei Disney einen Namen, wo er an der Entwicklung von Klassikern wie «Beauty and the Beast», «Aladdin», «The Lion King» und «Mulan» mitwirkte. Sein Regiedebüt gab er mit «Lilo & Stitch», bevor er zu DreamWorks Animation wechselte. Dort landete er mit «How to Train Your Dragon» einen Volltreffer, gefolgt von «The Croods». Dann widmete er sich eine Zeit lang ausschliesslich der Arbeit an Fortsetzungen seiner Filme, ohne selbst Regie zu führen. Mit «The Wild Robot» kehrt er nun auf den Regiestuhl zurück – und liefert sein bisher bestes Werk ab.
Das behaupte ich jetzt einfach mal. Aber mit unerschütterlicher Überzeugung.
Denn «The Wild Robot» ist nicht nur unheimlich gut geschrieben und von seinem talentierten Voice-Cast vertont. Darunter auch Bill Nighy, Matt Berry, Ving Rhames und Mark Hamill. Der Animationsfilm sieht auch schlichtweg atemberaubend schön aus. Impressionistisch und malerisch zugleich. Wie ein Monet-Gemälde mit Ray-Tracing und 3D-Animation. Klingt bizarr. Ist aber in Wahrheit die halbe Miete des Films.
Chris Sanders folgt damit dem Trend zu modernen, experimentellen Ausdrucksformen, den spätestens Sonys «Spider-Man: Into the Spider-Verse» geprägt hat: Zum ersten Mal versuchte Hollywood nicht mehr, die makellose Animation von Disney oder Pixar zu imitieren. Stattdessen suchten die amerikanischen Animationshäuser nach eigenen, unverwechselbare Stilen.
Das oft unterschätzte «Puss in Boots: The Last Wish» etwa leitete 2022 bei DreamWorks Animation diesen Wandel ein. «The Wild Robot» führt diese Entwicklung konsequent fort.
Und als ob das alles nicht schon genug des Gesamtpakets wäre, steuert Komponist Kris Bowers einen der schönsten Scores des ganzen Jahres bei. Mal emotional. Mal gruselig. Mal treibend. Filmherz, was willst du mehr?
Fazit
Mehr als «nur» Animation
«The Wild Robot» ist eine emotionale Achterbahnfahrt, die uns mit ihrer visuellen Brillanz und ihrem tiefsinnigen Storytelling in ihren Bann zieht. Der Film scheut sich dabei nie, auch dunkle Themen wie Verlust und Tod anzusprechen. Manchmal so richtig herzzerreissend. Manchmal aber auch mit überraschend schwarzem Humor, der selbst in den traurigsten Momenten ein Lächeln hervorzaubert.
Doch so düster «The Wild Robot» zwischendurch sein kann: Im Zentrum der Geschichte stehen die schönen Momente. Die grossen, wichtigen Lektionen des Lebens, untermalt von Bildern und Musik, die einfach nur heilend für Herz und Seele sind. Das macht «The Wild Robot» zum vielleicht reifsten Animationsfilm seit Jahren. Zu einem Meisterwerk, das unbedingt gesehen werden muss. «The Wild Robot», wir sehen uns bei den Oscars.
Kinostart ist der 3. Oktober.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»