Würdest du beim aktuellen Wetter dein Kind seinen Mittagsschlaf draussen machen lassen? Für viele nordische Eltern ist das Routine, selbst bei Temperaturen tief unter dem Gefrierpunkt. Warum das gut ist. Und wo die Grenze liegt.
Es ist kalt, und das bleibt es vorerst auch. Hinzu kam in den vergangenen Tagen der Windchill-Effekt in der Schweiz: Die Temperatur erschien uns noch kälter, als sie eigentlich ist.
In nordischen Ländern hat man für unser aktuelles Schlottern wohl trotzdem nur ein müdes Lächeln übrig. In Schweden oder Finnland wurden jüngst stellenweise um die minus 40 Grad gemessen. Bei Temperaturen, wie wir sie aktuell haben, lassen sie ihre Kinder aber sogar noch draussen schlafen.
Frische Luft für den tiefen, langen Schlaf
Vor Cafés, Shops oder auf Balkonen geparkte Kinderwagen gehören in nordeuropäischen Städten zum Ortsbild. Und spätestens seit sich vor gut einem Jahr ein australischer Tourist auf Tiktok darüber gewundert hat und mit seinem Clip durch die Decke ging, wird auch regelmässig in den sozialen Medien über das Phänomen diskutiert. Das Echo reicht von alarmierend über erstaunt bis zustimmend. Von «Das bricht mir das Herz» über «Ich kann das nicht glauben» bis hin zu «Das sind die besten Schläfchen».
Eltern aus dem hohen Norden sind überzeugt, dass die frische Luft sich positiv auf den Kinderschlaf und das Immunsystem auswirkt. Bereits 2011 wurde die Tradition wissenschaftlich untersucht. Gesundheitswissenschaftlerin Marjo Tourula von der finnischen Universität Oulu konzentrierte sich dabei auf Nordfinnland, wo die Mehrheit der befragten Eltern von vielfältigen Vorteilen berichtete: Kinder, die draussen schlafen, haben ein stärkeres Immunsystem. Dank der frischen Luft schlafen sie schneller ein, schlafen insgesamt ruhiger sowie länger. Während ihr Mittagsschlaf drinnen zwischen einer Stunde und zwei Stunden beträgt, dauert er an der frischen Luft zwischen eineinhalb und drei Stunden.
Ein wichtiger Faktor spiele dabei die dicke Kleidung. «Vermutlich kann die Bewegungseinschränkung durch Kleidung die Schlafdauer verlängern», wurde Wissenschaftlicherin Tourula auf BBC.com zitiert. «Und eine kalte Umgebung ermöglicht das Pucken ohne Überhitzung.» Pucken ist eine altbewährte Einwickeltechnik, bei der das Baby eng in ein Tuch geschlungen wird und durch die eingeschränkte Bewegungsfreiheit ein vertrautes Gefühl von Enge in der Gebärmutter vermittelt bekommt.
Genial und gesundheitsfördernd? Oder gefährlich und grotesk?
Die nordische Mittagsschlaf-Tradition wird in sozialen Medien kontrovers diskutiert. Quelle: Tiktok
Bei welcher Temperatur ist Schluss?
Ihre Recherchen ergaben ausserdem: Die optimale Temperatur für den Outdoor-Mittagsschlaf liegt bei Minus 5 Grad. Ist es kälter, verzichten die Eltern vermehrt darauf oder verkürzen das Schläfchen. Die Wissenschaftlerin sprach aber auch mit Eltern, die ihre Kinder sogar bei Minus 30 Grad draussen liessen.
BBC berichtet von einer Vorschule ausserhalb Stockholms, die ihre Kinder bis zum Alter von drei Jahren und einer Temperatur von etwa minus 15 Grad outdoor schlafen lässt. «Wenn die Temperatur auf Minus 15 Grad fällt, decken wir die Kinderwagen immer mit Decken ab. Es kommt nicht nur auf die Temperatur an, sondern auch darauf, wie kalt es sich anfühlt.» Bei Minus 20 Grad – oder gefühlten – würden sie die Kinder dann drinnen platzieren.
Dänische Expertinnen und Experten und die Gesundheitsbehörde raten hingegen, Kinder nur bei Temperaturen bis zu minus 10 Grad draussen schlafen zu lassen. Es sei zudem wichtig, dass der Kinderwagen an einer vom Wind geschützten Stelle stehe. Ausserdem soll er bei sehr tiefen Temperaturen zusätzlich isoliert werden, etwa mit Zeitungspapier, heisst es.
Eine Frage der Kultur
Abgesehen von der Eiseskälte sorgt die Tatsache, dass die Kinder draussen alleine gelassen werden, für irritierte Reaktionen in sozialen Medien. Wie sehr hier kulturelle Gepflogenheiten auseinanderdriften, zeigt der Fall von Anette Sørensen im Jahr 1997. Die damals 30-jährige dänische Schauspielerin musste in ihrem Wohnort New York City ins Gefängnis, weil sie ihre einjährige Tochter schlafend vor einem Restaurant zurückgelassen hatte. Sie selbst hatte damals ausgesagt, sie habe am Fenster gesessen und ihre Tochter im Auge behalten. Restaurantgäste berichteten aber, dass das Kind geweint und die Mutter eine Aufforderung des Kellners, das Baby reinzunehmen, ignoriert habe.
20 Jahre später reflektierte Sørensen die damaligen Geschehnisse in einem Buch und betonte die kulturelle Kluft: Das tiefe Urvertrauen sei ein essenzieller Teil des dänischen Erziehungsstils. Wohingegen in den USA die Angst um die Kinder dominieren würde.
In ihrer Dissertation über die nordeuropäische Mittagsschlaf-Tradition untersuchte Gesundheitswissenschaftlerin Marjo Tourula ebenfalls den Sicherheitsaspekt. Und kam zum entwarnenden Schluss: Die Kinder seien in der Regel unter kontinuierlicher Überwachung – entweder durch Fensterbeobachtung oder Babyphones.
Eine vierfache amerikanische Mutter, die in Dänemark lebt, betont in einem bis heute millionenfach angesehenen Tiktok-Video ebenfalls: Die Eltern hätten stets ein wachsames Auge auf ihren Kinderwagen oder ein Babyphone darin installiert. Und die Angst vor Kidnapping existiere hier schlicht nicht.
Perfektes Versuchswetter
Zurück zur Ausgangsfrage. Würdest du dein Kind bei den aktuellen Wetterverhältnissen draussen schlafen lassen? Inzwischen vielleicht schon. Falls du es ausprobieren möchtest, herrscht in den nächsten Tagen jedenfalls perfektes Outdoor-Mittagsschlaf-Wetter: Temperaturen um den Gefrierpunkt, Sonnenschein und kaum Wind.
Würdest du dein Baby draussen bei Minustemperaturen schlafen lassen?
Klar, damit hätte ich kein Problem.
39%
Nur, wenn ein Babyphone im Kinderwagen wäre.
16%
Nur, wenn ich ebenfalls draussen in der Nähe wäre.
Anna- und Elsa-Mami, Apéro-Expertin, Gruppenfitness-Enthusiastin, Möchtegern-Ballerina und Gossip-Liebhaberin. Oft Hochleistungs-Multitaskerin und Alleshaben-Wollerin, manchmal Schoggi-Chefin und Sofa-Heldin.