Esoterische Heilsbringer, krude Weltanschauungen: Wann der Aberglauben-Trend schadet
1-11-2023
Nicht immer ist Hokuspokus harmlos: Magische Rituale, Steine als Heilsbringer und Aberglaube liegen im Trend – und übernehmen im schlechtesten Fall die Kontrolle über dein Leben.
Derzeit zündet die Esoterik-Szene ein wahres Feuerwerk an Hokuspokus: Von magischen Kräutern über glitzernde Steine bis hin zu spirituellen Wasserkochern gibt es scheinbar nichts, was es nicht gibt. Es scheint, als hätte die Gesellschaft kollektiv entschieden: Die Antworten auf unsere tiefsten Fragen sind in einem obskuren Geschäft in einer dunklen Ecke des Internets zu finden oder in einem schrulligen Esoterikladen.
Stars aus der spirituellen Lifecoaching-Szene und sogenannte Ritual-Designer finden immer mehr Fans. Auf Social-Media-Plattformen verkaufen sie nicht nur «gute Ratschläge», sondern auch jede Menge Krimskrams mit angeblich zauberhaften Eigenschaften. Und einige von ihnen verdienen mit der Leichtgläubigkeit und Naivität ihrer Opfer Kundinnen und Kunden reichlich Asche. Von Online-Hexen, die angeben, die Zukunft vorhersagen zu können, bis hin zu Schamaninnen, die mit der Geisterwelt kommunizieren: Der Markt ist überschwemmt mit Menschen, die offenbar überirdische Kräfte besitzen. Mike Shiva selig lässt grüssen.
Fauler Zauber: Wenn der Barcode dich umbringen will
Aber Obacht: Ich will zwar nicht behaupten, es sei gänzlich unmöglich, dass es tatsächlich Menschen mit besonderen Fähigkeiten gibt – solche, die feinfühliger sind und ehrlich hilfsbereit. Wer aber (ohne jegliche Skepsis) esoterische Untiefen abtaucht, ist bald pleite oder verdummt oder beides. Wer anfängt, sein Leben aufgrund von Karten, Kristallen oder kruden Vorhersagen zu lenken (rsp. lenken zu lassen), bekommt ernsthafte Probleme.
So werden Tür und Tor für immer haarsträubendere Glaubenslehren geöffnet – wie etwa der sogenannten «Barcode-Verschwörung». Demnach sollen die Strichcodes auf Dosensuppe, Bier und Tiefkühlpizza toxische Strahlung absondern bzw. die Lebensmittel mit «negativer Energie» aufladen. Dagegen sollen aufgedruckte Striche und Symbole wie das Unendlichkeits-Zeichen über den Barcode-Balken helfen.
Geld wird mit der Angst natürlich auch gescheffelt: So kann man im Netz etwa «Strichcode-Entstörstifte» erstehen. Ich habe gerade so etwas auf einer Bio-Balance-Technology-Seite (hä?) um wohlfeile 52 Euro entdeckt. Dort gibt es auch andere praktische Dinge wie einen «Vision Booster» oder Kinder-Chips gegen Elektrosmog.
Was an Esoterik so gefährlich ist
Esoterik ist eine Form von Entertainment, keine Ersatzreligion oder Lebensphilosophie, das meint auch Autorin Katharina Nocun. Gemeinsam mit Pia Lamberty hat sie letztes Jahr das Buch «Gefährlicher Glaube – Die radikale Gedankenwelt der Esoterik» veröffentlicht und spricht gerne Klartext: «Das Problem ist, dass sich bei solchen Angeboten eine psychologische Abhängigkeit entwickeln kann. Die Betroffenen trauen sich gar nicht mehr richtig, selbst Entscheidungen zu treffen», sagt sie. Stattdessen erfüllen esoterische Heilsbringer «eine gewisse Sehnsucht nach einem besseren, nach einem anderen, einfacheren Leben. Wir kennen das ja: Wir fühlen uns manchmal unzufrieden. Und dann kommt die Esoterik daher und verspricht: Wir machen alles besser, alles neu. Einige wecken auch eine sehr verklärte Vorstellung von der sogenannten guten, alten Zeit. Da heißt es etwa, früher war die Medizin naturbelassener, sogar magischer. Es wird dann komplett ausgeblendet, dass die Lebenserwartung früher viel niedriger war – als es beispielsweise keine Impfungen gab.»
Frauen glauben mehr an Esoterik als Männer – warum?
Nocun weist außerdem darauf hin, dass Frauen für einige Spielarten der Esoterik offener zu sein scheinen als Männer. Studien belegen ihre Vermutung: Laut der bevölkerungsrepräsentativen Autoritarismus-Studie von 2020 stimmen 18,4 Prozent der weiblichen Befragten Aussagen über Aberglauben zu.
Auch aus den USA gibt es dazu Forschungen: «Ich war fasziniert davon, zu verstehen, warum weltweit Frauen eher als Männer an magische Phänomene glauben», so Sarah Ward, Studienautorin und Assistenzprofessorin an der Universität von Illinois. «In mehreren Studien, deren Ergebnisse auch in «Psychology Today» veröffentlicht wurden, bestätigte sich, was ich vermutete: Frauen gaben an, sich mehr auf ihre Intuition zu verlassen, und erzielten niedrigere Werte bei einem kognitiven Reflexionstest, der die Tendenz des Einzelnen prüft, eine falsche Bauchreaktion zu ignorieren. Beides steht in Zusammenhang mit einem stärkeren Glauben an die Magie.» Interessanterweise zeigten die Studien auch: Die Zustimmung der Männer zu magischen Überzeugungen nahm zu, wenn ihr Vertrauen in ihre Intuition experimentell gestärkt wurde.
Und die sollen jetzt bloß keine blöden Witze reißen: «Obwohl einige Stereotypen den höheren Esoterik-Glauben von Frauen gerne als Folge geringerer Rationalität oder Intelligenz darstellen würden, wurde dies durch die Daten nicht bestätigt», so Ward. «Frauen und Männer unterschieden sich in den Studien nicht in ihren analytischen Denkfähigkeiten.»
Sei streng mit dir und bleib wachsam
Und jetzt mal Tacheles: Fast jede und jeder hat schon einmal einen Glücksbringer zu einer Prüfung mitgenommen – oder hat für bestimmte Anlässe bestimmte Rituale, etwa wenn man verliebt ist oder ein geliebtes Tier stirbt. Wo ist die Grenze zwischen seelenreinigendem und gefährlichem Aberglauben? Dazu meint Autorin Nocun: «Gefährlich wird es, wenn dahinter ein komplettes Weltbild steht mit der Annahme, es gebe unsichtbare Kräfte, von denen ich weiß, wie ich sie beeinflussen könne – und ich dann meine komplette Hoffnung darauf setze.»
Titelfoto: shutterstockJanina Lebiszczak
Autorin von customize mediahouse
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