Einsamkeit macht krank, Alleinsein hilft dagegen
27-2-2024
In Film, Kunst und Philosophie gilt Einsamkeit als schillernde Quelle der Inspiration und der Erkenntnis. In der Realität jedoch verlieren einsame Menschen den Anschluss, mit schweren gesundheitlichen Folgen. Und wie die Forschung heute weiß, verhindert das eigene Gehirn sogar, wieder sozialen Anschluss zu finden.
Zwei Jahre lang reist der Aussteiger Christopher McCandless alleine durch die nordamerikanische Wildnis in Richtung Alaska. Wegbegleiter sind selten, bis er die letzten Monate vor seinem Tod 1992 in einem weiß-grünen Linienbus-Wrack in vollkommener Einsamkeit verbringt. Seine Geschichte fasziniert – nicht zuletzt wegen der Frage, was den damals 24-Jährigen freiwillig in die soziale Isolation treibt. Sein Tagebuch, das er unterwegs schreibt, wird durch die Buchadaption «Into the Wild» zum Welterfolg, Spiel- und Dokumentarfilme folgen wenig später.
McCandless tragisches Ende in der Einsamkeit wird später von vielen romantisiert. Sein Bus wird zur Pilgerstätte, bis Abenteurer auf dem Weg dorthin verunglücken und das Wrack entfernt wird.
In der Realität ist wenig Glorreiches an der Einsamkeit zu finden. Für sie braucht es kein Buswrack in der Einöde – Einsamkeit kann überall entstehen: Im Alltag und selbst in Momenten der Zweisamkeit.
Johannes Gorbach, Projektleiter der Plattform gegen Einsamkeit in Österreich, gibt Einblicke in die Welt der Einsamkeit, warum der Weg aus ihr so beschwerlich ist und was der erste Schritt sein kann.
Keine Alterserscheinung: Immer mehr junge Menschen von Einsamkeit betroffen
Wer sich heute jemand einsames vorstellt, sieht nicht den schillernden jungen Abenteurer, sondern einen alten Menschen in einem Pflegeheim. Tatsächlich ist Einsamkeit jedoch nichts, was sich nur im hohen Alter abspielt.
Im Gegenteil: Daten aus Deutschland des Meinungsforschungsinstituts Splendid Research, aufbereitet von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zeigen sogar: Heute fühlen sich immer mehr junge Menschen zwischen 18 und 29 Jahren einsam.
In der Schweiz sinkt die Einsamkeit laut Statistik sogar mit zunehmendem Alter: Während sich in der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen 48 Prozent der Befragten oft einsam fühlen, sind es bei den über 65-Jährigen nur noch 32 Prozent.
«Einsamkeit entsteht in Übergangsphasen des Lebenslaufs», sagt Experte Gorbach. «Die Jugend ist so eine Phase: Wohnortwechsel, Schulwechsel oder der Eintritt in das Berufsleben – das sind alles Veränderungen, die das Risiko für Einsamkeit erhöhen.» Warum der Fokus heute verstärkt auf der Jugend als Risikogruppe liegt, erklärt er so: «Die Pandemie hat ein Brennglas darauf gerichtet und Einsamkeit wurde unter jungen Menschen stark enttabuisiert.»
Digitalisierung und Social Media: Treiber der Einsamkeit?
Inwiefern Digitalisierung, soziale Netzwerke und das Smartphone eine Rolle spielen, werde gerade in der Wissenschaft heiß diskutiert: «Digitale Medien haben unsere sozialen Beziehungen in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich verändert. In allen Altersgruppen.»
In der Wissenschaft gibt es unterschiedliche Schlussfolgerungen zu dieser Entwicklung. Laut einer 2023 erschienen Studie steht mehr Zeit in sozialen Netzwerken in einem deutlichen Zusammenhang zu einem stärkeren Einsamkeitsgefühl.
Für Gorbach hingegen ist das Bild nicht schwarz-weiß: «Wir sehen problematische Effekte – zum Beispiel den Rückzug in ausschließlich digitale Welten. Aber wir sehen auch Chancen: Die Digitalisierung erleichtert betroffenen Menschen oft den ersten Schritt aus der Einsamkeit. Besonders für junge Menschen ist es oft einfacher, online in Kontakt zu treten.» Was für den Experten aber feststeht: «Unser menschliches Bedürfnis nach sozialem Kontakt und Nähe lässt sich nicht nur im digitalen Raum befriedigen.»
Ein Warnzeichen: Was dir die Einsamkeit sagen will
Wie beschreibt die Wissenschaft Einsamkeit? Als subjektiven, negativen Zustand: «Ein wahrgenommener Mangel zwischen den gewünschten und den verfügbaren Kontakten», sagt Gorbach. Aus evolutionärer Sicht ist sie ein Warnzeichen, ähnlich wie Hunger oder Stress: «Das Hungergefühl ist per se nichts Schlechtes. Es sagt mir nur: Ich muss mich auf Nahrungssuche begeben und etwas essen.»
Wie der Hunger scheint auch die Einsamkeit ein uraltes Programm der Evolution zu sein. Und ein völlig normales menschliches Empfinden. Sie sagt dir: «Du musst wieder hinausgehen und mit anderen Menschen in Kontakt treten.»
Kein Problem, denkst du jetzt, du hast ja genügend Kontakte auf deinem Handy gespeichert. Das allein sei aber nicht entscheidend: «Wir müssen die Qualität der Beziehung auch als befriedigend wahrnehmen.» Darum können sich auch Menschen, die in einer Partnerschaft leben oder einen großen Freundeskreis haben, häufig einsam fühlen. «Diese Menschen wünschen sich oft noch tiefergehende Freundschaften, in denen sie sich über gemeinsame Interessen austauschen können.»
Eine Situation, die du vielleicht auch schon kennst. Jeder fühlt sich hier und da einsam, sagt Gorbach. Ab und an Zeit alleine zu verbringen ist sogar eine Kompetenz, die gegen Einsamkeit vorbeugen kann. Deshalb kurz eine Begriffs-Abgrenzung: Das Alleinsein ist – anders als die Einsamkeit – etwas Neutrales. Bist du allein, bist du räumlich von anderen Menschen getrennt, was durchaus positive Seiten haben kann: «Wer phasenweise alleine sein kann und mit sich selbst in guter Beziehung steht, lernt viel über die eigenen Bedürfnisse in Beziehungen», sagt Gorbach. Welche Kontakte tun dir gut? Wonach suchst du in Beziehungen und über welche Themen tauschst du dich gerne aus?
Alleinsein kann eine Chance sein, Einsamkeit hier und da ist völlig normal. «Es ist eine menschliche Erfahrung, einsam zu sein. Problematisch wird es, wenn ich einsam bin und keine Kontakte habe, die meine Bedürfnisse nach Zugehörigkeit oder Intimität befriedigen.»
Wie Einsamkeit der Gesundheit schadet
Vorab: Einsamkeit ist keine Diagnose oder Krankheit, aber Einsamkeit kann krank machen. Hält sie länger an – wird sie also chronisch –, kann sie tiefe Spuren in deiner Gesundheit hinterlassen. Wortwörtlich.
Zum Beispiel erhöht langanhaltende Einsamkeit Studien zufolge den Blutdruck und das Risiko für Herzinfarkte und andere koronare Herzerkrankungen. Dazu verdopple sich das Risiko für Diabetes Typ 2 und auch das Demenzrisiko steigt um satte 40 Prozent.
Unterm Strich bedeutet das für chronisch einsame Menschen ein um 83 Prozent erhöhtes Sterberisiko – höher als die Sterblichkeit durch Fettleibigkeit oder Tabakkonsum.
Darum hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kürzlich den Start einer Kommission gegen Einsamkeit angekündigt. Sie soll untersuchen, wie sich Sozialkontakte als Beitrag für eine gute Gesundheit fördern lassen. In Großbritannien wiederum gibt es schon seit 2018 eigens ein Ministerium für Einsamkeit, das Pionierarbeit zum Thema leistet und unter anderem mit dem Tackling Loneliness Hub das krankmachende Zuviel-Alleinsein angehen will.
Wie Einsamkeit das Gehirn verändert
Und als wäre das alles nicht schon dramatisch genug, kamen Einsamkeits-Forschungen in den vergangenen Jahren zudem zu einer erschreckenden Erkenntnis: Bei langanhaltender Einsamkeit verändert sich das Gehirn. Untersuchungen mit Wissenschaftlern isolierter Antarktis-Forschungsstationen zeigten: Bei Einsamkeit reduziert sich der präfrontale Kortex im Volumen – also das Gehirnareal hinter deiner Stirn. Dort triffst du Entscheidungen, löst Probleme und es gilt als Sitz der Persönlichkeit.
Passend dazu zeigte sich in Studien wie dieser oder dieser: Primaten, die in größeren Gruppen lebten, hatten größere Gehirne und zudem mehr graue Materie in ihrem präfrontalen Kortex. Bei Menschen sei das nicht sehr viel anders. Das erklärt zumindest den Zusammenhang mit der Demenz.
Was diese Befunde auch erklären: Mit der Zeit halten einsame Menschen ihr Umfeld für negativer, als es tatsächlich ist. Laut Forschungen nehmen chronisch Einsame negative soziale Stimuli (kurze Antworten, kein Blickkontakt) doppelt so schnell wahr wie Menschen mit gesundem Sozialleben. Und: Einsamkeit macht soziale Interaktion irgendwann weniger belohnend, da das Belohnungszentrum im Gehirn schrumpft. Kurz gesagt: Selbst wenn man es wollte, macht es das Hirn dir schwer, dich aus der sozialen Isolation hinauszubegeben.
«Wenn man schon einsam ist, bekommen Kontakte per se eine negative Konnotation», sagt Gorbach. Mit dem Gefühl der Einsamkeit komme ein Schwall an negativen Gefühlen, Selbstzweifeln und mangelnder Selbstwirksamkeitserfahrung hoch. Der Beginn einer unfreiwilligen Abwärtsspirale: «Man nimmt das Leben da draußen irgendwann als viel feindseliger wahr, als es ist und geht mit einem gewissen Argwohn auf andere zu. Das macht es schwierig, aus der Einsamkeit herauszukommen.»
Alleinsein schützt vor Einsamkeit
«Geh doch mehr unter Menschen», ist ein Tipp, den Einsame oft zu hören bekommen. Das sei ungefähr so hilfreich wie einem Depressiven zu mehr Zuversicht zu raten. «Hochproblematisch» nennt Gorbach diese Ratschläge. «Man kann den Betroffenen Einsamkeit nicht vorwerfen. Das Denken verändert sich mit der Zeit und es bauen sich soziale Skills ab. Dinge wie Gesprächsführung muss man dann teilweise wieder neu erlernen und regelmäßig üben.»
Stattdessen helfen Betroffenen direkte Angebote. Denn wichtig sei zunächst, aus der sozialen Isolation herauszufinden und Kontakte zu ermöglichen. Wenn sich Menschen in deinem Umfeld immer weiter aus dem Sozialleben zurückziehen, kannst du sie also ins Nachbarschaftszentrum, Begegnungscafé oder zur Schnupperstunde im Sportverein begleiten.
Untersuchungen haben gezeigt: Einsame Menschen können sich schlechter mit anderen synchronisieren, Blicke austauschen oder auf ein Lächeln reagieren. Schafft man potenzielle Kontakte in begleiteter Form, könne das helfen, wieder kleine positive Momente mit anderen zu erleben und der Einsamkeit entgegenzuwirken.
Ins Tun müssten Betroffene aber selbst kommen, sagt der Experte. Ein erster Schritt ist das Eingeständnis, dass etwas im Sozialleben fehlt. Und sich selbst zu fragen, welche Art von Austausch man sich wünscht und wo man Gleichgesinnte dafür findet. Dazu hilft die Einsicht: Niemand ist vor der Einsamkeit gefeit. Gorbach betont: «Sie kann jeden und jede treffen. Es gibt kein Eigenverschulden.»
Wenn du selbst oder jemand in deinem Umfeld betroffen ist, kannst du dich auf der Plattform gegen Einsamkeit zu dem Thema schlau machen oder dich direkt an Schweizer Initiativen wie Malreden.ch, Prävention.ch oder die im Lockdown initiierte Plattform Helden gegen Einsamkeit wenden.
Der Wunsch nach Einsamkeit wurde McCandless letztlich zum Verhängnis. Er erlag mutterseelenalleine, nur wenige Kilometer von der nächsten Stadt entfernt, vermutlich dem Hungertod. Auf den letzten Seiten seines Tagebuchs war er zur späten Erkenntnis gekommen: «Glück ist nur echt, wenn man es teilt.»
Titelbild: shutterstock
Olivia Leimpeters-Leth
Autorin von customize mediahouse
Ich liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party.