Ratgeber
Zu Besuch bei einer Sexologin
von Natalie Hemengül
Wie erkennst du, ob eine Frau schon mal Sex hatte? «Gar nicht», sagt Sexualtherapeutin Dania Schiftan. Ein Gespräch über den absurden Stellenwert der weiblichen Unberührtheit und den Mythos «Jungfernhäutchen».
Ob du bereits sexuelle Erfahrungen gesammelt hast oder nicht, geht nur dich allein etwas an. Sollte man zumindest meinen. Vielen Frauen wird diese Privatsphäre aber nicht zuteil. Sexologin und Psychotherapeutin Dania Schiftan erklärt, wie das Konzept der weiblichen «Jungfräulichkeit» selbst heute noch instrumentalisiert wird, unter welchen verheerenden Folgen Betroffene leiden und wie sie versuchen, damit umzugehen.
Dania, was ist eigentlich eine Jungfrau?
Dania Schiftan: Früher wurde der Begriff synonym zu Maid oder Fräulein verwendet, also für eine unverheiratete Frau. Damals ging man davon aus, dass diese noch keinen Sex hatte. Heute verwenden wir den Begriff umgangssprachlich, um Personen jedes Geschlechts zu beschreiben, die noch keine partnerschaftliche Sexualität gelebt haben. Im Kontext einer weiblichen Person ist auch oft die Rede von der Unberührtheit, der sexuellen Unschuld oder der Unbeflecktheit.
Klingt alles altbacken.
Das ist es auch. Die weibliche Jungfräulichkeit ist ohnehin ein kulturelles Konzept ohne medizinische Grundlage. Es entstand aus der religiös-patriarchal motivierten Absicht, die weibliche Sexualität zu kontrollieren. Die Unterdrückung sexueller Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen ist leider heute noch ein Thema, das sich hartnäckig hält und in so gut wie allen Weltreligionen zu finden ist.
Inwiefern fehlt hier die medizinische Grundlage?
Die Jungfräulichkeit ist anatomisch gar nicht nachweisbar. Dennoch ist in diesem Kontext oft die Rede vom sogenannten «Jungfernhäutchen», an dem man vermeintlich erkennen soll, ob eine Frau schon einmal Geschlechtsverkehr hatte oder nicht. Der korrekte Begriff lautet übrigens Hymen.
Was stimmt mit dem Begriff «Jungfernhäutchen» nicht?
Erstens suggeriert er, dass es sich beim Hymen um ein Häutchen handelt und zweitens, dass nur Jungfrauen noch eins besitzen. Beides ist falsch. Das Hymen ist keine Haut, die den Vaginaleingang wie Frischhaltefolie verschliesst.
Sondern?
Du musst dir das Hymen wie einen dünnen Gewebekranz vorstellen, der keinem spezifischen Zweck dient. Ähnlich wie ein zerknäultes Haargummi. Das Hymen besitzt im Normalfall eine dehnbare Öffnung, die sich zum Beispiel an einen Tampon oder Penis anpassen kann. Ohne diese Öffnung wären Frauen gar nicht in der Lage zu menstruieren. Deshalb lässt sich anhand des Hymens auch nicht nachweisen, ob eine Frau bereits Sex hatte oder nicht.
Mit einem Häutchen hat das in der Tat nichts gemeinsam. Wie kommt es, dass einige Frauen beim ersten Mal bluten, wenn da nichts einreisst?
Nur etwa die Hälfte aller Frauen bluten beim ersten Sex. Und entgegen dem vorherrschenden Irrglauben, reisst das Hymen nach dem ersten Mal nur in 30 Prozent aller Fälle ein und verschwindet ausserdem nicht. Das Hymen bleibt der Frau ein Leben lang erhalten. Eine Blutung kann viele Ursachen haben. Sie entsteht zum Beispiel häufig durch Risse in der Vaginalwand und bei zu wenig Sekret.
Jungfräulichkeit ist also keine physische Eigenschaft?
Korrekt. Sprechen wir weiterhin vom Jungfernhäutchen, sprechen wir dem Hymen eine Bedeutung zu, die es gar nicht hat. Und wir halten einen Mythos am Leben, der weitreichende Folgen hat: Er verhindert die Gleichberechtigung und setzt Frauen weltweit unter Druck.
Welche Konsequenzen hat solch ein Druckmittel für die Frauen?
In vielen Teilen der Welt legt die Jungfräulichkeit noch heute den Wert einer Frau fest. Wortwörtlich. Zum Beispiel in Form von hohen Brautpreisen. Ausserdem fördert der hohe Stellenwert des Jungfräulichkeits-Konzepts Zwangs- und Kinderehen. Das indonesische Militär hat zum Beispiel noch bis vor Kurzem Zweifinger-Tests durchgeführt, um Rekrutinnen auf ihre Jungfräulichkeit zu untersuchen. Völlig absurd. Dadurch werden Frauen davon abgehalten, ihre Sexualität zu erforschen, selbst zu entdecken und frei auszuleben. Aus Angst, etwas unwiderruflich kaputtzumachen, trauen sich viele Frauen auch nicht, Tampons zu verwenden, Vibratoren auszuprobieren oder einfach nur den Finger in die Scheide einzuführen. Ganz zu schweigen von den drastischeren Massnahmen, die Frauen in ihrer Not ergreifen, um einen vermeintlichen Beweis ihrer Jungfräulichkeit zu erbringen.
Die wären?
In Indien arbeiten Frauen mit Blutkapseln, die sie sich vor der Hochzeitsnacht in die Vagina einführen, damit diese dann die rote Farbe freigeben. Und es gibt hierzulande Frauen mit muslimischem Hintergrund, die sich sogar einer Hymen-Rekonstruktion unterziehen.
Wie lässt sich etwas rekonstruieren, das beim Sex gar nicht kaputtgeht?
Bei der sogenannten «Revirginisierung» wird die Öffnung im Hymen künstlich verkleinert, sodass es beim Geschlechtsverkehr zwangsweise einreissen muss. Es ist also faktisch keine Rekonstruktion, sondern eine Neukonstruktion.
Ob ein Mann schon Sex hatte, scheint hingegen niemanden zu interessieren ...
Bei denen ist es eher andersrum. Haben sie zu wenig oder gar keinen Sex, werden sie als Schlappschwanz oder Schwuchtel beschimpft. Wir Frauen hingegen gelten als rein und unbefleckt. Schlafen wir aber mit mehreren Sexualpartnern, werden wir als Huren, Nutten, Schlampen, Flittchen, leichte Mädchen oder sonst was tituliert. Männer aber sind Aufreisser, Playboys oder Paschas.
Das klingt, als laste auch auf den Männern ein wenig Druck?
Viele Männer fühlen sich wertlos oder schämen sich, wenn sie in einem bestimmten Alter noch keine sexuellen Erfahrungen gesammelt haben. Manche erwägen dann auch für Sex zu bezahlen, um endlich mitreden zu können und dazuzugehören.
Als ich ein Teenager war, trugen meine liebsten Disney-Stars zu Image-Zwecken einen sogenannten «Purity Ring». Also einen Ring, der im Kontext des christlichen Glaubens als Versprechen gilt, sich für die Ehe aufzuheben. Seither hat sich ein bisschen was verändert. Welche Bedeutung und Symbolik wird deiner Meinung nach heute noch der sexuellen «Unschuld» in unserer westlichen Gesellschaft beigemessen?
Ausdrücke, die in unserem Sprachgebrauch nach wie vor geläufig sind, sagen viel über uns als Gesellschaft aus. Nehmen wir den Ausdruck der «Unschuld». In ihm steckt die Schuld. Also die christlich geprägte Sexualmoral.
Uii, das ist mir nie aufgefallen.
Sex ist etwas Schmutziges, Unzüchtiges, für das man sich schämen soll und das seinen Platz nur in einer festen Beziehung findet, für die man sich «aufheben» soll. Ganz nach dem christlichen Motto «Wahre Liebe wartet». Das weisse Brautkleid steht übrigens als Symbol für diese «Reinheit». Ebenso der Ring als Zeichen dafür, sich nur an eine Person zu binden und die Sexualität ausschliesslich mit dem Richtigen zu teilen. Auch wenn wir heute viel offener und freier sind: In unseren Köpfen sind solche vermeintlichen Werte immer noch verankert. Sie werden über Generationen weitergegeben.
Dania Schiftan arbeitet seit 15 Jahren als Sexologin und Psychotherapeutin in ihrer eigenen Praxis in Zürich. Zudem ist sie auch als Psychologin bei Parship tätig. Mehr über sie und ihren Job erfährst du im Interview mit ihr:
Alle weiteren Beiträge aus der Serie findest du hier:
Auftaktbild: cottonbro studio via PexelsAls Disney-Fan trage ich nonstop die rosarote Brille, verehre Serien aus den 90ern und zähle Meerjungfrauen zu meiner Religion. Wenn ich mal nicht gerade im Glitzerregen tanze, findet man mich auf Pyjama-Partys oder an meinem Schminktisch. PS: Mit Speck fängt man nicht nur Mäuse, sondern auch mich.