Hintergrund
Wenn dein Kind nicht nur das Spiel, sondern komplett die Fassung verliert
von Martin Rupf
Wieso müssen wir Eltern in allen möglichen Lebensbereichen immer Vorbild sein? Ein Plädoyer für mehr elterlichen Ungehorsam.
Wir Eltern müssen, nein wollen idealerweise Vorbild sein für unsere Kinder. Denn wir wissen: Erziehung geschieht weniger durch den (oft vergeblichen) Versuch, seinen Kindern Dinge beizubringen. Nein, Erziehung passiert dann, wenn wir uns wortwörtlich vorbildlich verhalten, da unsere Kinder uns nachahmen, unsere Muster kopieren und von uns lernen. Kurzum: Wir erziehen nicht primär durch unsere Worte, sondern durch unser tägliches Verhalten und Taten, wie auch die Erziehungsberaterin Maya Risch im Interview mit Galaxus festhält.
Natürlich fällt es den meisten Eltern schwer, dieser Vorbildfunktion immer gerecht zu werden. Hei, wir sind auch nur Menschen, haben bessere oder schlechtere Tage und vor allem: Sind wir nicht vor allem dann Vorbild für unsere Kinder, wenn wir uns nicht immer vorbildlich verhalten, weil wir eben authentisch sind (dieses Argument zieht immer). Also ich will meinen Kindern ehrlich gesagt nicht das Bild eines immer korrekt und besonnen handelnden Übermenschen vermitteln.
Ich selber tue mich mit der Vorbildfunktion etwas schwerer als der Durchschnitt (was meine Frau wohl ohne gross zu zögern bejahen würde). Der Grund: Ich sehe es mit Regeln und Verhaltensvorschriften nicht ganz so eng, respektive reize gerne einmal die Grenzen aus.
Für mich gibts drei Kategorien von Regeln und Vorschriften:
1. Regeln, die ich auch kinderlos befolgen würde
Die Regeln, die mir einleuchten und die ich auch ohne Vaterpflichten befolgen würde. Zu solchen gehören etwa, keinen Abfall liegen zu lassen, anderen Menschen keinen Schaden zuzufügen oder …, mir fällt leider schon nichts mehr ein. Ich könnte hier zum Beispiel noch vollmundig «Respekt anderen gegenüber» erwähnen. Doch wie ist das etwa beim Abendessen? Bin es da nicht gerade ich, der wieder einmal genüsslich über andere lästert? Und wie war das gleich nochmals mit «keine Medien am Tisch»? Kein Problem: Ich habe meinen Kindern klar gemacht, dass Skirennen schauen nicht in die Rubrik «Medien» fällt.
2. Bedingt sinnvolle Regeln, die ich als Vater aber trotzdem befolge
Dann gibts Regeln, die mir zwar nur bedingt einleuchten, wo ich aber den Sinn meines vorbildlichen Verhaltens erkenne. Beispiel ist etwa die verlassene Kreuzung, wo die Fussgängerampel auf Rot steht. Wäre ich alleine, würde ich die (verlassene) Strasse ungeniert überqueren. Sind aber meine Kinder dabei – oder stehen andere Kinder am Zebrastreifen – dann warte ich artig, bis die Ampel auf Grün schaltet. Ich will nicht schuld sein, wenn ein Kind angefahren wird, nur weil es beim nächsten Mal bei Rot über die Strasse geht, da es sich dies von einem idiotischen Erwachsenen abgeschaut hat.
3. Regeln, die mir zwar einleuchten, die ich aber trotzdem nicht befolge
Und dann gibts da noch die Regeln, die mir grundsätzlich einleuchten, die ich aber trotzdem nur selten befolge. Das Paradebeispiel hierfür ist das Tragen eines Velohelms. Wenn ich mit dem Rennvelo unterwegs bin oder längere Strecken zurücklege, trage ich immer einen Helm. Wenn ich aber gemütlich auf eine Velotour mit meinen Kindern gehe, würde es mir nie in den Sinn kommen, einen Velohelm zu tragen, was mir nicht nur strafende Blicke anderer Eltern beschert hat. Nein, einige Eltern haben mir schon offen ins Gesicht gesagt, ich sei doch Vorbild für meine Kinder und habe deshalb gefälligst einen Helm zu tragen.
Und selbstverständlich fragten mich meine Kinder anfangs, weshalb sie, nicht aber ich, einen Helm tragen müssten. Meine sowohl bestechende als auch einleuchtende Antwort: «Weil ihr Kinder seid und ich nicht.» Rationale Gründe, keinen Helm zu tragen, gibt es in der Tat nicht. Auch bei einer kleinen, gemächlichen Velotour kann ein Unfall passieren. Und das mit der Vorbildfunktion ist wahrlich nicht ganz von der Hand zu weisen. Und doch werde ich auch künftig auf kleineren Ausflügen keinen Helm tragen. Erstens würde dieser mich eines Stückchens Freiheitsgefühl berauben. Und zweitens ist das Nicht-Helmtragen auch ein kleiner (spätpubertärer?) Akt wider der ganzen Verbots-, Regulierungs- und Sicherheitsgesellschaft.
Vor allem aber ist das Oben-ohne-Velofahren ein Statement gegen die mir von aussen in allen möglichen Lebensbereichen auferlegte Vorbildfunktion. Ich bin auch nur ein Mensch mit Ecken und Kanten. Bleibt nur zu hoffen, dass ich beim Velofahren ohne Helm mit solchen Ecken und Kanten keine Bekanntschaft mache.
Aufgrund der vielen Rückmeldungen, für die ich euch danke, sehe ich mich zu einem kurzen Nachtrag gezwungen. Ertappt: Ich gurte mich beim Autofahren nie an, lasse meine Kinder unbeaufsichtigt mit scharfen Messern und Feuer spielen – und noch schlimmer, verbiete ihnen, am Morgen ihre Leuchtwesten anzuziehen, weil diese meinem Modeverständnis widersprechen. Nein, jetzt mal im ernst. Ich würde mich durchaus als verantwortungsvollen Vater bezeichnen, der sehr wohl Wert auf das Einhalten von Regeln und das Respektieren zwischenmenschlicher Normen legt. Auch sehe ich mein gelegentliches Nicht-Helmtragen nicht als Akt des Rebellierens. Im Gegenteil: Letztlich gehts doch gerade darum, seinen Kindern einen vernünftigen Umgang mit Regeln beizubringen (wobei das Helmtragen auf einem gewöhnlichen Velo ja eben gerade keine Regel/Vorschrift ist). Wenn ich also eine gemütliche Velotour auf einem nicht befahrenen Feldweg mache – wir wohnen auf dem Land – dann trage ich keinen Velohelm. Klar, es könnte mir ein Bussard auf den Kopf fallen, aber diese Restrisiko gehe ich ein.
Du fragst jetzt sicher, «wieso müssen dann deine Kinder einen Helm tragen?» Ganz einfach, weil sie eventuell ohne Fremdeinwirkung zu Fall kommen, was mir – ausgenommen ich fahre angeheitert Velo – nicht passiert. Wobei: als verantwortungsbewusster Papi mache ich das natürlich nie! Ein User hat mich gefragt: «Die spannende Frage lautet für mich jetzt: was lernen deine Kinder aus deinem Verhalten?» Das kann ich dir gerne sagen. Ich will meinen Kindern Vorbild sein, indem ich ihnen beibringe, Gefahren und Risiken richtig einzuschätzen und nicht indem ich sie dazu erziehe, jede Norm unhinterfragt zu befolgen.
Wie auch immer: Ich finde die Reaktionen auf meinen Beitrag spannend. Letztlich ist es doch jedem selber überlassen, ob und vor allem in welcher Situation er sich einen Velohelm aufsetzt und man kann hier tatsächlich unterschiedlicher Meinung sein. Aber der Vergleich mit dem Masken tragen hinkt meines Erachtens. Denn natürlich trage ich die Hygienemaske, dort wo sie vorgeschrieben ist. Ich bin ja schliesslich kein Alu-Hut..äh Alu-Helm.
Meine Redaktionskollegin sieht das Ganze etwas anders – hier findest du ihre Antwort auf meinen Meinungsartikel:
Zweifachpapi, nein drittes Kind in der Familie, Pilzsammler und Fischer, Hardcore-Public-Viewer und Halb-Däne. Was mich interessiert: Das Leben - und zwar das reale, nicht das "Heile-Welt"-Hochglanz-Leben.