Dem Laufen auf der Spur: Die Ganganalyse im Bewegungslabor
3-2-2022
Bilder: Thomas Kunz
Ich will mehr über den menschlichen Gang lernen und weiss, wohin ich dafür gehen muss: ins Detail. Expert:innen der Bewegungsanalyse Zürich an der Universitätsklinik Balgrist helfen mir dabei. Die Geschichte eines ersten Schrittes und seiner Folgen.
Mark Huybrechts setzt Marker um Marker. Der Physiotherapeut betastet meine Knochen und Gelenke, rasiert letzte Haare von der Schienbeinhaut, bemalt mich mit grünem Filzstift und arbeitet sich von den Füssen bis zu meinen Schultern hoch, um 53 reflektierende Kügelchen aufzukleben. Ich werde vermessen, gewogen und durchbewegt, fotografiert und befragt. 16 Elektroden registrieren jedes Muskelzucken.
Versteckte Kraftmessplatten warten darauf, betreten zu werden, während Infrarot- und Videokameras jede Bewegung festhalten. Vor mir liegen nur zehn Meter mausgrauer Boden, eine weisse Linie und bunte Markierungen. Und doch weiss ich nicht, wo das alles hinführen wird. Auf jeden Fall zu neuen Erkenntnissen. Und eine Woche später, bei der Nachbesprechung, zu irritierenden Adjektiven.
Läuft bei dir. Oder?
Ich bin im Bewegungsanalyse-Labor an der Universitätsklinik Balgrist, wo der Physiotherapeut Mark Huybrechts, die Sportwissenschaftlerin Dr. Gerda Strutzenberger und Chefarzt Prof. Johannes Scherr bei der Ganganalyse auf etwas schauen, das so individuell wie unser Fingerabdruck ist. Jedes Bewegungsmuster ist einzigartig. Und bei jedem Schritt passiert im Körper derart viel, dass dieses gelungene Zusammenspiel einem kleinen Wunder gleicht. Wundersamer Weise nehmen wir es als gegeben hin. Die Frage «Wie läuft’s?» bezieht niemand auf den Gang. Sie ist ein geflügelter Satzfetzen, um Smalltalk zu beginnen. Und die Antwort lautet meistens «gut» – auch wenn’s nicht stimmt.
So wie wir uns bemühen, die Fassade zu wahren, überspielt auch unser Körper aufkommende Probleme. Gleicht aus, verteilt die Belastung um, bemüht sich, das System am Laufen zu halten, bis es nicht mehr geht. Die schmerzhafte Wahrheit ist, dass selbst bei Hobbyläufer:innen Überlastungen oder Verletzungen eher die Regel als eine Ausnahme sind. Viele geben den Sport deshalb auf. So weit bin ich noch nicht. Aber ich weiss, dass bei mir einiges schief läuft. Trotzdem antworte ich «gut», als Huybrechts und Strutzenberger mich mit der Frage «Wie geht’s, Michael?» begrüssen. Wir werden sehen.
Stellvertreter an der Startlinie
Es ist eine persönliche Suche, auf die ich dich in den kommenden Monaten mitnehmen will. Es geht darum, mehr darüber zu lernen, wie die Dinge zusammenhängen. Egal, ob du Sport treibst oder nicht – Gehen geht uns alle was an. Es ist gut zu wissen, wo Probleme entstehen können und wie sie sich auswirken. Deshalb stehe ich heute als Versuchskaninchen stellvertretend an der Startlinie. Die Daten werden ein Ausgangspunkt sein, um Themen rund ums Laufen zu vertiefen. Fragen gibt es genug: Was passiert im Fuss, dem Knie, der Hüfte? Was ist normal, was nicht? Was lässt sich trainieren? Gibt es ihn, den perfekten Gang? Und falls ja: wie sieht der aus?
Aus dieser Idealvorstellung lässt Professor Scherr ganz schnell die Luft raus. «Wenn jemand optimal geht, heisst das noch lange nicht, dass er auch optimal läuft oder rennt», sagt der Leiter des Universitären Zentrums für Prävention und Sportmedizin an der Universitätsklinik Balgrist. Es komme immer auf die Referenzgruppe und die jeweiligen Herausforderungen an. «Usain Bolt ist biomechanisch gesehen ein sehr perfekter Sprinter.» Doch schon ein Hürdenläufer benötige etwas andere Voraussetzungen.
Einfache Antworten wird es nicht geben. Die Zusammenhänge sind zu komplex. Dafür ist meine erste Aufgabe klar und einfach. «Bitte gehen Sie jetzt los», fordert eine monotone Computerstimme.
Ein Puzzlestein der Diagnostik
Es sind nur zehn oder elf Schritte, die mich in ein Modell verwandeln. Hin und zurück in diesem kargen Raum voller Kameras, immer wieder. Daraus entsteht eine Datensammlung, die mit jeder Bewegung wächst. Meine Referenz ist nicht Usain Bolt, sondern die Normalbevölkerung. Ein gesunder Mittelwert, der mir zeigen wird, wo ich stehe. Beziehungsweise: wie ich gehe.
Dass meine Anatomie unterhalb der Knie eine eigenwillige Wendung nimmt, ist so offensichtlich, dass mich Gerda Strutzenbergers trockener Erstbefund angesichts meines Avatars auf den Bildschirmen nicht überrascht: «Man sieht, dass du O-Beine hast.»
Für diese Erkenntnis braucht es keine Marker und Sensoren, keine 3D-Modelle der Körperachsen. Es braucht sie, um die Zusammenhänge zu verstehen und um zu messen, was das im Gehen bedeutet. «Das Besondere ist, dass ich auf das ganzheitliche Bild schauen und die gesamte Bewegungskette mit einbeziehen kann», sagt Strutzenberger. «Die interne Belastung könnte ein Video alleine nicht zeigen.»
Die Bewegungsanalyse ist ein Puzzlestein in der Diagnostik. Sie wird Kräfte und ihre Folgen sichtbar machen, die dem Auge verborgen bleiben. «Der grosse Vorteil liegt in der Kombination mit anderen Verfahren», ergänzt Huybrechts. Ein MRI oder Röntgenbild macht strukturelle Probleme sichtbar, die Bewegungsanalyse zeigt auf, was das fürs Gesamtsystem bedeutet. Davon profitieren Menschen mit Fehlstellungen oder Verletzungen genauso wie Sportprofis, die auf der Suche nach Optimierungspotenzial sind.
Geh mal normal
Auf den Monitoren ist mein Körper von grünen, roten, blauen und gelben Linien überdeckt, die sich aus den Positionen der Marker ergeben. In einer anderen Ansicht tanze ich nur in Form von bunten Punkten durch einen gerasterten schwarzen Raum. Dazu kommen die Daten zur Muskelaktivität, die über Strutzenbergers Bildschirme flimmern.
Mark Huybrechts kümmert sich darum, dass an meinem Körper äusserlich alles stimmt. Er justiert die Reflektoren, optimiert die Position der Sensoren und übt mit mir das Gehen. «Wir suchen jetzt die beste Startposition», sagt der Physiotherapeut und Spezialist für Neuroorthopädie, der mir ruhig und freundlich Anweisungen gibt. «Geh mal an die blaue Linie und nimm die weisse zwischen die Füsse. Dann kannst du in normalem Tempo starten.»
Normal. Was ist schon normal. Es herrscht zwar eine entspannte Atmosphäre, doch ich stehe in Unterhose mit Kugeln und Sensoren übersät vor Kameras und soll unter aufmerksamen Blicken einer Linie am Boden folgen. Da wird jeder Schritt zum Denksport, das Versuchskaninchen unsicher. «Die Patienten gehen am Anfang meist etwas zögerlich», sagt Strutzenberger. «Wir wollen aber das normale Gangbild abbilden, das braucht etwas Zeit zur Eingewöhnung.» Nur dann sind die Daten etwas wert.
Ein kalibrierter Körper
Vieles, was die beiden mit mir anstellen, verstehe ich erst hinterher. Nicht nur das System wird zu Beginn kalibriert, sondern auch ich. Während ich mich ans Gehen im Kugelkostüm gewöhne, werde ich so dirigiert, dass ich unbewusst die Kraftmessplatten im Boden treffe. Sie werden zeigen, wie ich meine Füsse belaste. Je häufiger ich sie betrete, desto besser die Datenbasis.
«Wir versuchen, zwischen fünf und acht Fussabdrücke pro Bein zu bekommen, um dann für jede Seite einen Durchschnittswert berechnen zu können», sagt Gerda Strutzenberger mir später. Ich werde von der Sohle bis zum Oberkörper aufgenommen. Das erlaubt einen ganzheitlichen Blick auf meinen Gang. Irgendwann kommt Routine auf, ich gehe gleichmässig und streife auch die Marker, die seitlich wie eine Antenne von meinen Unterschenkeln abstehen, nicht mehr versehentlich am nächstbesten Stuhlbein ab. Sie sitzen an den richtigen Stellen, die Schritte auch, die eigentliche Messung kann beginnen. Ein Grossteil der Arbeit steckt in der perfekten Vorbereitung.
Von aussen betrachtet, ist das Hin und Her nicht spektakulär. Die gewonnenen Daten sind es. «Früher hätte es eine Woche gedauert, all das zu erfassen», erklärt Strutzenberger. Wir sind etwa anderthalb Stunden beschäftigt, bis sie sagt: «Wir messen jetzt noch für drei Sekunden, wie die Signale deiner Muskeln in Ruhe sind.» Und drei Sekunden später lachend: «Das wars auch schon mit der Entspannung, danke! Viel Zeit dafür haben wir nicht bei uns!» Es gibt einiges zu tun, denn Daten machen Arbeit. Wie sie zu bewerten sind, erfahre ich eine Woche später. Ohne Kügelchen am Körper, aber mit leichtem Herzklopfen.
Oh, die Beine
«Wenn wir uns darüber unterhalten, wie das visuell aussieht, ist es spannend», sagt Chefarzt Scherr. Und präzisiert schmunzelnd: «Oder interessant.» Kunstpause. «Das sagt man ja meistens im Restaurant auf die Frage, wie es geschmeckt hat, wenn etwas nicht ganz in Ordnung war.»
Was mir anschliessend serviert wird, ist eine Reihe von Erkenntnissen, von der mich nur die erste gar nicht überraschen kann. «Das, was man an deinen Beinen sieht, nennt sich Genua Vara.» Kenne ich. Hat nichts mit der italienischen Hafenstadt zu tun, sondern beschreibt meine O-Beine, die die komplette Statik durcheinanderwirbeln.
Überraschender ist der Expertenblick auf meine Anatomie anhand von Bildern und Daten, die weniger Offensichtliches sichtbar machen. «Das ist dein Gangzyklus, den wir aufdröseln und mit der Norm vergleichen», zeigt Gerda Strutzenberger auf ihrem Bildschirm. «Hier stehst du mit dem Fuss am Boden, das ist die Standphase, da ist das Bein in der Luft, das ist die Schwungphase», erklärt sie, und fährt die roten und blauen Linien nach, die für mein linkes und rechtes Bein stehen. In einigen Bereichen folgen sie der Norm, in anderen weichen sie extrem davon ab. Auch in Körperpartien, die ich bislang nicht im Blick hatte.
«Dein Sprunggelenk ist ein bisschen mehr dorsal extendiert, weil du diese Flexion im Knie hast», doziert Strutzenberger, und Scherr übersetzt: «Weil du im Knie gebeugt bist, ist dein Unterschenkel mehr nach vorne geneigt.» Ich lerne, dass ich mein Bein gar nicht ganz strecken kann, welche Folgen das hat und was sonst noch alles schief läuft. Vom Beckenhochstand bis hinunter zu den Füssen, die immerhin ein ganz schönes Gewölbe haben. Dass sie über den Aussenrand abrollen, ist durch die Krümmung der Schienbeine nur logisch, denn «die Bewegungskette hängt zusammen». In einer Schicksalsgemeinschaft aus Muskeln, Knochen, Nerven, Sehnen und Gelenken.
Ein Muskel muss es ausbaden
Dass meine Beine noch zusammenhängen verblüfft mich, denn die Belastung in den Knien sprengt fast die Skala: «Gerade in der ersten Hälfte der Standphase hast du eine deutlich höhere Belastung», zeigt Strutzenberger, und ich muss die blauen und roten Linien weit ausserhalb des Normspektrums suchen. Setzt mein Bein auf, wirken im Knie sehr hohe Drehmomente. Das hat Folgen. «Der Oberschenkelmuskel ist mittig extremst ausgeprägt, da der Körper versucht, diese Belastung abzupuffern», sagt Scherr. Im Grunde ist es so, als hätte jemand ein Modell gebaut, das eigentlich nicht halten kann, und dann mit Duct Tape irgendwie zusammengeschnürt. Suboptimal. Immerhin ist der Körper so schlau, an den kritischen Stellen Muskulatur aufzubauen.
Während ich mich gedanklich auf dem berühmten Schaubild zur Evolutionstheorie vom modernen Menschen zum Neandertaler zurück entwickle, muss ich eine weitere Hiobsbotschaft verkraften. «Ein Hüftgelenk kann im Durchschnitt nach aussen und innen zusammengenommen ungefähr 90 Grad rotieren», erklärt Mark Huybrechts. Du hast auf der linken Seite einen Range von 20 bis 15, das ist speziell.»
Wieder so ein höfliches Adjektiv. «Wahrscheinlich gibt es strukturelle Gründe», schlussfolgert Scherr. «Deswegen finde ich es verwunderlich, dass das Gehen bislang einigermassen beschwerdefrei war.» In diesem Stil geht es, von der Hüfte bis zur Sohle, noch eine Weile weiter. Ich habe das Gefühl, meine Beine nach 40 Jahren erst richtig kennenzulernen.
Never change a running system
Interessant, speziell, verwunderlich – als Versuchskaninchen würde ich jetzt am liebsten die Branche wechseln, in einen Zylinder hoppeln und mich verwandeln lassen. Scherr denkt eher an den Trick mit der Säge. Hüfte hin oder her, das Hauptproblem ist nun mal die Belastung im Knie. Er zeichnet auf, was bei einer Umstellungsosteotomie passiert: «Man schneidet einen Keil aus dem Schienbein, um die Fehlstellung zu korrigieren.» Entweder in jungen Jahren, oder wenn im Erwachsenenalter chronische Schmerzen einsetzen. Bei mir ist das noch nicht der Fall.
«Zum aktuellen Zeitpunkt ist das ein einigermassen stabiles System», beruhigt mich der Chefarzt. «Und wie sagt man so schön: 'never change a running system'.» Ich bin das menschgewordene Windows XP und warte, einigermassen stabil, auf den Systemabsturz. Noch läuft es. Hüftsteif und mit O-Beinen. Aber es läuft. Ich sag ja: Der menschliche Gang grenzt an ein Wunder. Nicht nur meiner, sondern ganz allgemein. Es lohnt sich, ins Detail zu gehen. Sich mit den beteiligten Strukturen zu beschäftigen. Zu trainieren, zu korrigieren und über gängige Beschwerden zu informieren. Das will ich gemeinsam mit den Expert:innen des Zentrums für Sportmedizin Schritt für Schritt tun. Angefangen bei den Füssen. Einem oft vernachlässigten Körperteil, der eine tragende Rolle spielt.
Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.