Besser schlafen mit Gewichtsdecken? Die gewichtigen Fakten
13-9-2023
Kannst du dir vorstellen, mit einem Gewicht von 12 Kilogramm auf deinem Körper nachts besser zu schlafen? Nun, wer zu einer Gewichts- oder auch Gravity-Decke greift, hofft darauf. Die Wissenschaft rät tatsächlich zum «Bringt’s mir was?»-Selbstversuch.
Es gibt Erfindungen, die unser Leben bereichern, verändern, besser machen – und es auf die «TIME’s best Inventions»-Liste des Jahres schaffen. 2018 war es für die Gewichtsdecke der Firma Gravity soweit: Im US-Magazin stand sie neben Windkraftanlagen für das private Hausdach, unkaputtbaren Strumpfhosen, Malaria-Schnelltests mittels Lichtsensor statt Blutabnahme und 46 anderen Dingen im Schaufenster genialer neuer Produkte.
Die bis zu zwölf Kilogramm schweren Bettdecken sollen nach Herstellerangaben zu einem besseren, tieferen Schlaf führen. Durch den sanften Druck, der einer Umarmung gleiche, werde das Nervensystem beruhigt und die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin gefördert, so das Versprechen.
Außer der beworbenen Wirkung hat für die Nominierung aber sicher auch die Erfolgsgeschichte des Produktes eine Rolle gespielt: Denn innerhalb weniger Monate sammelte das Start-up-Unternehmen via Finanzierungsplattform Kickstarter fast 5 Millionen US-Dollar und verkaufte nach Markteinführung gleich Decken im Wert von 18 Millionen, bei einem Stückpreis von rund 250 Dollar. Ein Erfolg, den Firmenmitbegründer Mike Grillo auf das hübsche Design zurückführte – aber auch mit der Präsidentschaft von Donald Trump begründete, als viele Amerikaner nach Wegen suchten, ihre Ängste und Schlafstörungen in den Griff zu bekommen.
Gewichtige Hilfe in der Therapie: Gravity Blankets bei Autismus, Demenz und PTBS
Ganz fair war die Auszeichnung dennoch nicht. Denn so perfekt Gravity seine Blankets auch vermarktet und damit den Zeitgeist der Schlaflosen getroffen haben mag, erfunden hat die Firma die Gewichtsdecken nicht. Schon seit Jahren kommen sie als sensorische Therapie-Decken zum Einsatz, etwa bei autistischen Kindern, Tourette-, Demenz-, Alzheimer- und Parkinson-Erkrankten oder bei Soldatinnen und Soldaten, die an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden.
Bereits Ende der 1990er-Jahre hatte die amerikanische Ärztin Tina Champagne die Wirksamkeit für psychisch kranke Menschen erforscht und ihre Studienergebnisse 2007 in einem Konferenz-Papier zusammengefasst. Vor allem Angstsymptome könnten mithilfe solcher Decken reduziert werden. Ihre Probandinnen und Probanden waren damit – so eine ihrer Beobachtungen – etwa bei Panikattacken imstande, sich selbst wieder zu beruhigen.
Was Kühen hilft und Babys beruhigt …
In der Regel beträgt das Gewicht der Decke etwa zehn Prozent des Körpergewichts, die im Sitzen um- oder im Liegen aufgelegt einen sanften, gleichmäßigen und statischen Druck auf den gesamten Körper ausübt und beruhigend wirkt. Für diese tiefe Druckstimulation oder auch «deep (touch) pressure stimulation» werden meist Kunststoffkügelchen oder winzige Glasperlen in die zahlreichen Deckenschichten und -kammern eingenäht.
Der Begriff «deep (touch) pressure stimulation» wurde in den 1960er-Jahren von Temple Grandin geprägt. Die als «Rinderflüsterin» bekannt gewordene US-Amerikanerin kämpfte als Autistin selbst lange gegen Angstzustände. Irgendwann entdeckte sie beim Beobachten ihrer Viehherde, dass sich aufgeregte Tiere – zum Beispiel bei einem Tierarztbesuch – entspannten, wenn sie beim Warten im Gang seitlich stark eingeengt wurden. Daraufhin entwarf sie eine Vorrichtung, mit der sie mittels gepolsterter Platten Druck auf ihren eigenen Körper ausübte. Das Ergebnis: Ihre Ängste ließen nach wenigen Minuten deutlich nach.
Und auch in Studien mit autistischen Kindern sowie mit gesunden College-Studierenden konnte sie einen beruhigenden Effekt der Druckstimulation nachweisen.
Ein Effekt übrigens, den sich Eltern seit Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden zunutze machen, wenn sie ihr Baby eng in eine Decke einschlagen. Diese, auch pucken genannte, Wickeltechnik wirkt beruhigend auf den Nachwuchs, ist aber nicht unumstritten, da es zu Überhitzung und Hüftfehlstellungen kommen kann.
«Nebenwirkung» guter Schlaf
Doch nicht nur bei Ängsten können die Gewichtsdecken helfen. Allein in Stockholm werden jedes Jahr 2700 solcher Oberbetten für Erwachsene verschrieben, die sich etwa wegen Depression in psychiatrischer Behandlung befinden und an Schlaflosigkeit, Ein- und Durchschlafstörungen leiden. Der Grund: «Sie führen zu einer signifikant besseren Schlaferhaltung», so Mats Adler, Facharzt für Psychiatrie und Allgemeinmedizin.
Laut einer von ihm durchgeführten Studie, die 2020 im «Journal of Clinical Sleep Medicine» veröffentlicht wurde, profitierten rund 60 Prozent der Patientinnen und Patienten nachweislich von einer Intervention mit der beschwerten Decke. Sie berichteten von einem höheren Aktivitätsniveau während des Tages und einer Verringerung der Symptome von Müdigkeit tagsüber – als Folge einer deutlichen Verbesserung ihrer Schlafqualität durch die Gewichtsdecken.
Es ist also kein Etikettenschwindel, wenn Hersteller wie Gravity mit einer schlafverbessernden Wirkung für ihre Gewichtsdecken werben. Ob sich die Ergebnisse allerdings auch auf Menschen übertragen lassen, die nicht an psychischen Störungen oder psychiatrischen Erkrankungen leiden, ist noch nicht eindeutig belegt.
Wirkung aufs Hormonsystem?
Ungeklärt ist zum Beispiel die Frage, ob die Decken tatsächlich wie angepriesen auch das Hormonsystem des Körpers beeinflussen, wie die Hersteller behaupten. Der Tiefendruck soll dem Gehirn das gleiche Signal vermitteln, wie bei einer liebevollen Umarmung entsteht, also etwa die Ausschüttung des als »Schlafhormon« bekannten Melatonins fördern und den Kortisolspiegel und damit Stresspegel senken. Während etwa für Entspannungsmassagen solche biologischen Veränderungen tatsächlich belegt sind, gibt es für die Gravity Blankets keine Studien, die zeigen, dass bei ihrer Anwendung im Körper ähnliches passiert.
Psychologin Stephanie Margarete Müller, Nachwuchsgruppenleiterin am Haptik-Forschungslabor der Universität Leipzig, betonte daher gegenüber dem Fachmagazin «Spektrum der Wissenschaft», die Erkenntnisse zu den Effekten von Massagen ließen sich nicht ohne Weiteres auf Gewichtsdecken übertragen. Schließlich würden bei einer Massage die Körperschichten sehr dynamisch bewegt und verschoben und es finde zwischenmenschlicher Kontakt statt.
Keine allgemeine Empfehlung
Die Autorinnen und Autoren einer Übersichtsarbeit, die acht bislang erschienene Studien unter die Lupe nahmen – drei davon zu Schlafstörungen –, kamen zu einem eindeutigen Schluss: Es ließen sich aus den Untersuchungen keine allgemeinen Empfehlungen hinsichtlich eines Einsatzes für eine bessere Nachtruhe ableiten. Denn zum einen können Schlafstörungen neben psychischen Leiden vielfältige andere Ursachen haben, darunter auch körperliche Erkrankungen – da helfen die Decken dann wenig. Zum anderen gibt es auch Menschen, bei denen das Gewicht der Decke eher Beklommenheit, mitunter sogar Schmerzen verursacht.
Auch für Menschen, die nachts vermehrt schwitzen oder sich viel bewegen, ist die Decke wenig oder nur in der Einschlafphase geeignet. Denn das Drehen kann unter der schweren Decke ein Problem werden, wodurch die Schlafqualität eher gemindert als verbessert wird. Wer zudem unter Atembeschwerden oder Kreislaufproblemen leidet, sollte sie nicht oder nur in Absprache mit einem Arzt einsetzen. Für Kinder unter fünf Jahren sind die Decken generell nicht geeignet.
Probieren geht über Studie(re)n: Worauf du beim Kauf einer Gewichtsdecke achten musst
Dennoch sprechen sich Fachleute nicht generell gegen Gewichtsdecken bei Schlafproblemen aus. Vor allem Frauen, die leicht frieren, ängstliche Personen mit Einschlafschwierigkeiten oder all jene, die sehr ruhig liegen, würden die Decken oft als hilfreich und wohltuend empfinden. Psychologin Müller, die in einem Haptik-Lehrbuch für Gesundheitsberufe auch Fakten über Gewichtsdecken gesammelt hat, rät, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. «Man weiß in der Regel innerhalb weniger Minuten, ob man den Druck als angenehm und entspannend empfindet.»
Hat die Decke den ersten Entspannungstest im Geschäft bestanden – Entspannung ist die Grundvoraussetzung für Schlaf –, ist das eine gute Startbedingung. Welche Faktoren vor dem Kauf noch beachtet werden sollten, damit man das Investment von bis zu mehreren Hundert Franken oder Euro nicht bereut?
Je nach Hersteller wiegen die Decken zwischen vier und zwölf Kilogramm. Das Gewicht des gewählten Modells sollte etwa ein Zehntel deines eigenen Körpergewichts ausmachen. Am besten greifst du zu einer Gewichtsdecke, die normale Bettdeckenmaße hat. So kannst du sie mit gewöhnlicher Bettwäsche überziehen, die regelmäßig gewaschen wird.
Titelfoto: Gregory Pappas via unsplash.comDaniela Schuster
Autorin von customize mediahouse
Gäbe es meinen Job nicht, würde ich ihn erfinden wollen. Schreiben ist die Möglichkeit, ein paar Leben parallel zu führen. Heute stehe ich mit einer Wissenschaftlerin im Labor, morgen gehe ich mit einem Forscher auf Südpolexpedition. Täglich entdecke ich die Welt, erfahre Neues und treffe spannende Menschen. Aber nur kein Neid: Das Gleiche gilt fürs Lesen!
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