Audio-Kassetten 1986–2021: Meine persönliche Chronik
10-12-2021
Vom notwendigen Übel zur faszinierenden Retro-Technologie: Was Audio-Kassetten für mich als Kind, als Jugendlicher und als Erwachsener bedeuteten.
Wie alles angefangen hat, weiss ich nicht mehr. Ich beginne die Geschichte da, wo ich eine erste klare Erinnerung habe.
1986
Ich bin zehn Jahre alt und von Beruf Naturforscher. Als solcher nutze ich die beste mir zur Verfügung stehende Technologie: Ich nehme Vogelstimmen auf Audio-Kassetten auf. Von meiner Mutter Lieferantin habe ich ein Kassettengerät bekommen, das auch mit Batterien läuft und ein eingebautes Mikrofon hat. Das Gerät lege ich in den Garten, wo es zweimal 45 Minuten Gezwitscher aufzeichnet. Anschliessend höre ich das Ergebnis an und bestimme die Vögel anhand der Stimmen. Es sind vor allem Spatzen. Und Militärflugzeuge.
Eine andere Aufzeichnungsmöglichkeit als über dieses Mikrofon gibt es nicht. Wenn ich Musik vom Radio, vom Spulentonband oder vom Plattenspieler aufnehmen will, muss ich das Gerät vor eine der beiden Lautsprecherboxen stellen. Das ist dann nur mono. Macht nichts, das Gerät selber ist auch nur mono. Doof ist, dass auch darauf sehr oft Militärflugzeuge zu hören sind.
Die oben abgebildete Maxell ist meine erste leere Kassette. Bevor ich sie besass, musste ich bereits bespielte Kassetten überspielen. Das geht nur, wenn ich die Löcher oben mit Taschentuchfetzen vollstopfe. Ich habe schon ein paar Bibel-Hörspiele überspielt.
Es gibt auch goldige Maxell-Kassetten. Ich habe solche im ABM in Uster gesehen. Gold ist besser als Silber, das ist ja auch bei den Skirennen so. Pirmin Zurbriggen gewinnt meistens Gold. Peter Müller gewinnt meistens Silber. In Zürich haben wir eben nicht so hohe Berge und nicht so viel Schnee wie im Wallis.
1992
Ich bin jetzt semiprofessioneller Musik-Fan, das Gymi mache ich so nebenbei. Ich habe eine richtige Stereoanlage mit CD-Wechsler und Doppelkassettendeck. Ständig leihe ich CDs von Freunden oder von der Schulbibliothek aus und nehme die Stücke auf Kassette auf. Auch vom Radio könnte ich aufzeichnen, aber der Moderator quatscht meistens drein. Zweimal habe ich auch ein Album auf Kassette gekauft, eines von den Beatles und eines von Gotthard. Das ist billiger als eine CD, aber nicht so gut. Ich kann nicht direkt zu einem anderen Stück springen, sondern muss spulen.
Mein Kassettendeck hat zwar eine Funktion, mit der es den Anfang des nächsten Stücks selber findet, sodass ich nicht zehnmal hin- und herspulen muss. Das funktioniert aber nur, wenn eine Pause dazwischen ist und das Spulen dauert noch länger als im Normalbetrieb.
Ich habe ein eigenes Hörspiel aufgenommen. Es parodiert ein Hörspiel aus dem Deutschunterricht, das ich nicht verstanden habe, was mein 16-jähriges Ich wahnsinnig lustig findet. Und für die Mitschülerin, die ins Austauschjahr geht, haben wir eine Art Poesiealbum in Form einer Kassette gemacht. Jede und jeder musste etwas ins Mikrofon sprechen.
Ich kann mit meinem Kassettendeck auch meine E-Gitarre aufnehmen. Aber das klingt nicht gut.
1997
Seit ein paar Jahren habe ich einen Walkman, der sich nicht Walkman nennen darf, weil er nicht von Sony ist. Der spult extrem langsam, vor allem, wenn die Batterien schon halb leer sind, und das sind sie immer. Es klingt auch schlecht. Aber ein portabler CD-Player ist zu teuer, denn von Beruf bin ich jetzt Student. Und ohne Musik kann ich nicht leben.
Im Bandraum hat es einen Kassettenrekorder, bei dem sich die Geschwindigkeit einstellen lässt. Das verändert auch die Tonhöhe. Bei vielen Stücken sind die Gitarren einen halben Ton tiefer gestimmt, bei vielen aber auch nicht. So müssen wir nicht jedes Mal neu stimmen, wenn wir ein Stück lernen.
2007
Ich bin ein junger Tech-Redaktor und auf der Höhe der Zeit. Mit veraltetem Quatsch wie Kassetten habe ich nichts am Hut. Schon länger habe ich einen Discman und kann damit auch selbst gebrannte CDs abspielen. Jetzt habe ich mir auch einen iPod nano gekauft. Das ist noch viel praktischer. Für die letzten Kassetten, die ich noch nicht weggeworfen habe, schliesse ich das Kassettengerät an meinen Computer an und speichere die Audio-Files. Danach werfe ich den ganzen Mist weg.
2021
Ich bin ein nicht mehr so junger Tech-Redaktor, der alten Erinnerungen nachhängt. Daher fange ich nun an, mich für die Technologie der Kassetten zu interessieren und sie im Detail zu begreifen – mit 30 Jahren Verspätung. Die verschiedenen Bandsorten: Die silbrigen Maxell-Kassetten sind die Eisenbänder Typ I, die goldigen die Chrom-Bänder vom Typ II. Ich verstehe jetzt, warum mein Kassettendeck Dolby B und C hatte, wie die Dolby-Rauschunterdrückung funktioniert und warum es sie überhaupt braucht. Mir wird klar, dass Kassetten vor allem deshalb schlecht tönten, weil wir es mit billigen, verschmutzten und lieblos behandeltem Geräten und Bändern zu tun hatten. Und dass das auch ganz anders sein kann.
Die Erkenntnisse kommen ein bisschen spät. Aber nicht zu spät. Noch immer gibt es neue Kassetten und Kassettengeräte zu kaufen. Ja, ich teste im Jahr 2021 gerade ein brandneues Kassettendeck. Und auch ein altes. So viel verrate ich schon mal: Das alte ist in vielerlei Hinsicht besser. Dazu in Kürze mehr.
David Lee
Senior Editor
David.Lee@digitecgalaxus.chDurch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere.